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Schon am nächsten Tag kam er wieder vorbei. Sie merkte sich, um welche Stunde dies geschah.

Und von diesem Tag an spazierte er (war es Zufall?) fast täglich an dem Gitter vorüber.

Die Kameraden des Offiziers bemerkten, daß es in diesem »verwahrlosten« Garten hinter dem alten Rokokogitter ein recht hübsches Mädchen gab, das fast immer zu sehen war, wenn der fesche Leutnant vorüberkam – dieser Leutnant, den unsere Leser bereits kennen und der Théodule Gillenormand hieß.

»Hast du denn die Kleine nicht bemerkt«, fragten sie, »die dir immer Augen macht?«

»Hab ich denn Zeit dazu, alle Mädel zu bemerken, die mir Augen machen?« erwiderte der Lanzenreiter.

Cosette in Angst

In der ersten Hälfte des Monats April unternahm Jean Valjean eine Reise. Das geschah, wie unsere Leser bereits wissen, von Zeit zu Zeit, in sehr langen Zwischenräumen. Er blieb dann ein oder höchstens zwei Tage außerhalb. Wohin er ging? Das wußte niemand, auch Cosette nicht.

Jean Valjean war also abwesend.

Am Abend befand sich Cosette allein im Salon. Um sich zu zerstreuen, setzte sie sich an das Harmonium.

Als sie genug gespielt hatte, blieb sie nachdenklich sitzen. Plötzlich war ihr, als ob sie im Garten Schritte höre. Ihr Vater konnte es nicht sein, denn er war ja verreist. Und Toussaint lag bereits im Bett. Es war zehn Uhr abends.

Sie trat an den verschlossenen Fensterladen des Salons und legte das Ohr daran. Jetzt glaubte sie den Schritt eines Mannes zu erkennen, der durch den Garten schlich.

Rasch eilte sie in den ersten Stock und öffnete ein kleines Fensterchen, um in den Garten hinabzuschauen. Der Vollmond warf sein Licht strahlend auf den Garten. Es war taghell.

Niemand zu sehen.

Sie öffnete das Fenster. Der Garten lag in tiefstem Frieden, und so weit man die Straße von hier aus überschauen konnte, war sie leer wie immer.

Cosette dachte, sie habe sich getäuscht.

Am nächsten Tag ging sie bei Einbruch der Dunkelheit im Garten spazieren. Während sie unbestimmten Gedanken nachhing, glaubte sie plötzlich dasselbe Geräusch wie gestern zu hören. Es war, als ob jemand in der Dunkelheit unter den Bäumen hinschliche. Doch achtete sie weiter nicht darauf, zumal sie nichts sehen konnte.

Als sie auf die kleine Rasenfläche vor dem Hauseingang trat, ging eben hinter ihr der Mond auf und warf ihren Schatten auf den Kiesweg.

Erschrocken blieb sie stehen.

Neben ihrem Schatten zeichnete der Mond auf dem Rasen einen anderen schrecklichen und unheimlichen, den Schatten eines Mannes mit einem runden Hut.

Der Fremde konnte nur einige Schritte hinter ihr stehen.

Eine Minute lang stand sie da, ohne ein Wort über die Lippen zu bringen, sich auch nur zu rühren.

Jetzt raffte sie all ihren Mut zusammen und wandte sich entschlossen um.

Niemand war da.

Sie sah auf den Rasen: der Schatten war verschwunden.

Jetzt eilte sie kühn in das Gestrüpp, durchsuchte alle Winkel bis zum Gitter; aber sie fand nichts.

Jetzt erst fühlte sie den eisigen Hauch des Schreckens. War das auch eine Halluzination? Einmal konnte sie sich täuschen, aber zweimal? Und dieser Schatten hatte gar nicht einem Gespenst geglichen. Gespenster tragen nicht runde Hüte.

Am nächsten Tage kam Jean Valjean zurück. Cosette erzählte ihm, was sie beobachtet hatte, und erwartete, er werde die Achseln zucken und sagen: Du bist ein kleines Närrchen.

Aber er schien besorgt.

»Es wird nichts Besonderes sein«, sagte er immerhin.

Dann schützte er eine Besorgung vor und eilte in den Garten; sie bemerkte, daß er das Gitter aufmerksam betrachtete.

In der Nacht wachte sie plötzlich auf. Diesmal war sie sicher, Schritte auf der Freitreppe unter ihrem Fenster zu vernehmen. Sie lief zu ihrem Ausguck und sah im Garten einen Mann mit einem großen Stock in der Hand. Eben als sie aufschreien wollte, fiel das Mondlicht auf sein Gesicht. Es war ihr Vater.

Sie legte sich wieder zu Bett und dachte: er ist doch unruhig.

Nicht nur diese Nacht, auch die nächsten beiden Nächte verbrachte Jean Valjean im Garten. Cosette bemerkte es wohl. In der dritten Nacht, es war zur Zeit des abnehmenden Mondes, hörte sie gegen ein Uhr ein lautes Lachen und die Stimme ihres Vaters, der rief.

»Cosette!«

Sie sprang aus dem Bett, hüllte sich in ihren Morgenrock und öffnete das Fenster.

Ihr Vater stand unten auf der Rasenfläche.

»Ich wollte dich nur beruhigen«, sagte er, »sieh hier! Da ist dein Schatten mit dem runden Hut.«

Und er zeigte ihr auf dem Rasen einen Schatten, der wirklich dem eines Mannes mit einem runden Hut recht ähnlich war. Es war die Silhouette des Schornsteins auf dem Nachbarhause, der mit einem breiten Kapitell geschmückt war.

Auch Cosette lachte.

Am nächsten Tag beim Frühstück spottete sie über den unheimlichen Garten, in dem die Schornsteine spukten.

Einige Tage später aber ereignete sich ein neuer Zwischenfall.

Nachricht

Neben dem Gartengitter stand eine Bank aus Stein, die gegen die Blicke Neugieriger durch eine Hagebuttenhecke geschützt war. Doch konnte ein Vorübergehender sogar mit freier Hand bis zu jener Bank reichen.

Eines Abends gegen Ende April war Jean Valjean ausgegangen. Cosette hatte sich nach Sonnenuntergang auf die Gartenbank gesetzt. Ein kühler Wind rauschte in den Bäumen, und Cosette hing ihrer Träumerei nach. Eine unbestimmte Traurigkeit hatte sich ihrer bemächtigt, die Traurigkeit des Abends und jener Stunde, die einem halbgeöffneten Grabe gleicht.

Cosette stand auf, ging langsam im Garten auf und ab und betrachtete, sosehr ihr Geist auch anderswo weilte, die mit abendlichem Tau benetzten Gewächse.

Man müßte eigentlich, dachte sie, Holzschuhe anziehen, wenn man um diese Zeit in den Garten geht. Man erkältet sich sonst.

Dann kehrte sie zu ihrer Bank zurück.

Als sie sich setzen wollte, bemerkte sie auf dem Platz, den sie eben verlassen hatte, einen ziemlich großen Stein, der vorher bestimmt noch nicht hier gewesen war.

Sie sah ihn an und fragte sich, was er zu bedeuten habe. Plötzlich kam ihr der Gedanke, dieser Stein könne schließlich nicht allein hierhergekommen sein, es müsse ihn ein Arm durch das Gitter geschoben haben. Dieser Gedanke beunruhigte sie. Diesmal empfand sie wirklich Furcht. Der Stein war da, jetzt konnte sie nicht mehr an eine Halluzination glauben.

Doch diese Angst währte nicht lange. Bald trat die Neugierde an ihre Stelle.

Ach, wir wollen erst sehen, sagte sie sich.

Sie hob den Stein auf, der ziemlich schwer war, und fand darunter einen Brief.

Der Umschlag war aus weißem Papier. Cosette griff danach. Keine Adresse, kein Siegel. Aber wenn der Umschlag auch offen war, so enthielt er doch ein Blatt Papier.

Die Schrift gefiel Cosette.

Sie suchte nach einer Unterschrift, fand aber keine. Auch die Anrede fehlte. An wen richtete sich dieses Schreiben? An sie doch offenbar, da es auf ihre Bank gelegt wurde. Und von wem kam es? Ein unwiderstehlicher Drang überkam sie, den Brief zu lesen. Sie suchte wohl ihren Blick wegzuwenden, sah den Himmel an, blickte auf die Straße hinaus, beobachtete einen Augenblick lang die Tauben auf dem Dach des Nachbarhauses; schließlich aber fiel ihr Blick doch auf das Blatt, und sie dachte, sie müsse doch wissen, was darauf stehe. Und sie las folgendes:

»Gott kann dem Glück derer, die lieben, nur noch eines hinzufügen – Ewigkeit. Nach einem Leben der Liebe eine Ewigkeit der Liebe, das bedeutet in der Tat noch eine Steigerung. Aber es ist unmöglich, das Glück selbst zu steigern, das die Liebe uns auf dieser Welt vermittelt – selbst Gott kann das nicht. Er ist die Fülle des Himmels, aber die Liebe ist die Fülle des Menschlichen.«