Nachdem der Brief gelesen
Süße Gedanken bemächtigten sich Cosettes. Als sie aufblickte, spazierte gerade der schöne Offizier mit triumphierender Miene an dem Gitter vorüber. Cosette fand ihn abscheulich.
Wieder las sie das Blatt.
Es war ein Brief ohne Anschrift, ohne Namenszeichnung, Datum, zugleich dringlich und doch uninteressiert, eine rätselhafte Mischung aus Liebesbotschaft und Betrachtung, ein Rendezvous, gegeben in einer anderen Welt.
Wer mochte diese Zeilen geschrieben haben?
Cosette zögerte nicht einen Augenblick.
Nur er!
Jetzt tagte es in ihrem Geiste. Alles tauchte wieder aus der Vergessenheit auf. Sie empfand eine unerhörte Freude und doch eine tiefe Angst. Er war es, er schrieb ihr! Sein Arm hatte durch das Gitter gelangt! Sie hatte ihn vergessen, er hatte sie wiedergefunden. Aber hatte sie ihn denn wirklich vergessen? Nein, niemals! Sie war einen Augenblick lang so toll gewesen, es selbst zu glauben, weiter nichts. Als sie das drittemal das Blatt durchstudiert hatte, erschien wieder Leutnant Théodule und klirrte mit den Sporen. Cosette mußte aufblicken. Sie fand ihn jetzt langweilig, nichtssagend, sehr häßlich und unverschämt. Der Offizier glaubte, ihr zulächeln zu müssen. Ärgerlich wandte sie sich ab. Am liebsten hätte sie ihm etwas an den Kopf geworfen.
Dann lief sie in das Haus, schloß sich in ihr Zimmer ein, las das Blatt wieder und wieder, bis sie es auswendig konnte. Dann küßte sie es und steckte es in ihr Korsett.
Die Alten sind dazu da, rechtzeitig fortzugehen
Als es Abend wurde, ging Jean Valjean aus. Cosette aber kleidete sich an. Sie ordnete ihre Haare zu ihrer besten Frisur, zog ein besonders hübsches Kleid an, ohne recht zu wissen warum.
Wollte sie ausgehen? Erwartete sie Besuch? Nein.
Als es dunkelte, ging sie in den Garten. Toussaint war noch in der Küche beschäftigt, die auf den Hinterhof hinausging.
Sie kam zu ihrer Bank. Der Stein lag noch immer da. Sie setzte sich und legte ihre weiße Hand auf den Stein, als ob sie ihn streicheln und ihm danken wollte.
Plötzlich fühlte sie, daß jemand hinter ihr stand.
Sie wandte sich um und stand auf.
Er war es.
Er trug keinen Hut. Ihr schien, daß er blaß und mager war. In der Dunkelheit konnte man seinen schwarzen Anzug kaum erkennen. Die Dämmerung ließ seine schöne Stirn fahl, seine Augen beschattet erscheinen. Etwas an ihm erinnerte, kaum durch sein sanftes Wesen gemildert, an Tod und Nacht.
Cosette brachte kein Wort über die Lippen. Langsam trat sie zurück, denn sie fühlte sich zu ihm hingezogen. Auch er rührte sich nicht. Sie fühlte seinen Blick, ohne selbst die Augen zu ihm aufzuschlagen.
Jetzt lehnte sie sich an einen Baum. Wäre dieser Baum nicht dagewesen, gewiß wäre sie umgesunken.
Und jetzt hörte sie seine Stimme, diese nie gehörte Stimme, die das leise Rauschen des Laubes kaum übertönte.
»Verzeihen Sie, daß ich gekommen bin. Ich mußte, denn ich konnte nicht so weiterleben. Haben Sie den Brief gelesen, den ich hier auf diese Bank legte? Erkennen Sie mich noch? Fürchten Sie sich nicht vor mir. Es ist lange her seit damals … erinnern Sie sich noch an den Tag im Luxembourg, neben der Statue des Gladiators? Es muß ein Jahr sein seit damals. Ich habe die Frau, die dort die Stühle vermietet, gefragt, aber sie sagte, sie hätte Sie nicht mehr gesehen. Sie wohnten damals Rue de l’Ouest, in einem netten Haus, im dritten Stock. Sehen Sie, daß ich es weiß? Ich bin Ihnen nachgegangen, damals. Was sollte ich auch sonst tun? Aber dann sind Sie verschwunden. Einmal saß ich unter den Arkaden des Odéon und las Zeitungen, da glaubte ich Sie zu sehen. Ich lief Ihnen nach – aber ich hatte mich getäuscht. Es war nur derselbe Hut. Jetzt komme ich nachts immer hierher. Fürchten Sie sich nicht, niemand sieht mich. Ich will nur Ihre Fenster aus der Nähe sehen. Ich gehe ganz leise, damit Sie mich nicht hören und keine Angst bekommen. Unlängst stand ich hinter Ihnen, da haben Sie sich umgewandt. Sofort bin ich davongelaufen. Einmal hörte ich Sie singen und war glücklich. Macht es Ihnen etwas, wenn ich Sie singen höre? Es kann Ihnen doch nichts daran liegen, nicht wahr? Wenn Sie wüßten, wie ich Sie liebe! Verzeihen Sie mir, daß ich so spreche, aber ich weiß selbst nicht, was ich sage. Vielleicht kränke ich Sie.«
Die Beine versagten ihr den Dienst.
Er fing sie in seinen Armen auf und drückte sie an seine Brust, ohne zu wissen, was er tat. Er selbst taumelte, während er sie hielt. Ihm war, als ob sich ein Nebel vor seine Augen breite. Blitze zuckten zwischen seinen Brauen. Ihm war, als ob hier eine religiöse Handlung vollzogen werde und als ob er etwas Heiliges verletze. Sie nahm seine Hand und legte sie auf ihr Herz. Er fühlte das Blatt Papier und stammelte:
»Lieben Sie mich denn?«
Fast unhörbar antwortete sie:
»Schweig doch! Du weißt es.«
Sie dachte nicht daran, ihn zu fragen, wie er hierhergekommen war. Alles erschien ihr so einfach, es war so selbstverständlich, daß er bei ihr war!
Allmählich begannen sie zu sprechen. Der Bann der Stummheit war gebrochen. Sie vertrauten sich ihre Geheimnisse an, erzählten einander von ihrer Liebe, alles, was die Jugend und der Rest ihrer Kindlichkeit ihnen zuflüsterte.
Als sie alles gesagt hatten, legte das Mädchen ihren Kopf auf Marius’ Schulter und fragte:
»Wie heißen Sie?«
»Marius.«
»Ich heiße Cosette.«
Viertes Buch
Der kleine Gavroche
Der Wind spielt einen bösen Streich
Nach 1823, während die Herberge in Montfermeil langsam zugrunde ging, hatten die Thénardiers noch zwei Kinder bekommen: zwei Knaben. Also hatten sie insgesamt deren fünf, zwei Mädchen und drei Jungen.
Es war genug.
Die Thénardier entledigte sich der beiden Jüngsten bald. Ein eigentümliches Glück begünstigte sie dabei.
Bei der Thénardier war die Natur gewissermaßen nur ein Bruchstück. Wie die Marschallin de la Motte-Haudancourt, war die Thénardier nur die Mutter ihrer Töchter. In ihnen erschöpfte sich ihr Gefühl. Ihr Menschenhaß traf auch ihre Söhne. Den Ältesten verabscheute sie. Die beiden Jüngsten waren ihr unerträglich.
Warum?
Darum.
Jetzt wollen wir berichten, wie die Thénardiers sich ihrer beiden jüngsten Kinder entledigten und daraus noch Nutzen zogen.
Jene Magnon, von der wir bereits berichteten, daß sie mit der Bande Patron-Minette in Verbindung stand, war früher einmal Magd im Hause des alten Gillenormand. Von ihm hatte sie zwei Kinder bekommen. Der Leser erinnert sich vielleicht der großen Epidemie, die damals, vor fünfunddreißig Jahren, die Quartiere an der Seine heimsuchte und die Anlaß zu bedeutsamen Errungenschaften der ärztlichen Wissenschaft war. Durch diese Epidemie verlor Magnon am gleichen Tage ihre beiden Kinder. Das war ein schwerer Schlag, denn die Kleinen waren der Mutter sehr wertvoll, stellten sie doch eine monatliche Rente von achtzig Franken dar. Dieser Betrag wurde im Auftrage des Herrn Gillenormand von Herrn Barge, Rentenempfänger, Rue du Roy-de-Sicile, außerordentlich pünktlich ausgezahlt. Mit den Kindern war auch die Rente begraben.
Magnon suchte Ersatz. In dieser Verbrechergesellschaft, der sie angehörte, weiß jeder von jedem alles, hält jeder reinen Mund, hilft einer dem andern. Magnon brauchte zwei Kinder, die Thénardier hatte zwei zu vergeben. Alter und Geschlecht stimmten. Beide Teile konnten zufrieden sein. Die kleinen Thénardiers wurden kleine Magnons. Zur Sicherheit zog Magnon in die Rue Cloche-Perce. In Paris wird man vergessen, wenn man in ein anderes Quartier zieht.
Die Verwaltungsbehörde hatte nichts von der Sache erfahren, so daß die Unterschiebung höchst einfach vonstatten ging. Nur verlangten die Thénardiers für die beiden Kinder eine monatliche Leihgebühr von zehn Franken, zu deren Zahlung Magnon sich auch bereit erklärte.