Выбрать главу

»Pampft euch voll!«

Dann, als er sah, daß die Jungen ihn erschrocken anblickten:

»Ach, richtig, sie sind ja noch klein, sie verstehen das noch nicht«, voll Würde: »eßt, Kinderchen.«

Und da der Ältere ihm der Anrede würdiger schien, überreichte er ihm das größte Stück und sagte: »Stopf dir das in den Verschluß.«

Sie waren hungrig, und wer lange Zähne hat, versteht zuzubeißen.

Dann setzten die Kleinen den Weg zur Bastille fort.

Als sie die Rue des Ballets erreichten, aus deren Hintergrund das Gefängnis feindlich herüberdrohte, rief plötzlich eine Stimme:

»Holla, bist du es, Gavroche?«

»Ach, Montparnasse!«

Der andere hatte blaue Brillen aufgesetzt, aber Gavroche erkannte ihn gleich.

»Holla!« rief Gavroche, »du hast ja blaue Brillen wie ein Doktor? Sehr stilvoll, weiß Gott.«

»Still«, flüsterte Montparnasse, »nicht so laut.«

Rasch zog er Gavroche aus dem Lichtkegel eines Schaufensters. Mechanisch folgten die beiden Kleinen.

»Weißt du, wo ich hingehe?« fragte Montparnasse.

»Dir die Hanfkrawatte anmessen lassen.«

»Quatschkopf! Ich gehe zu Babet.«

»Ich dachte, der sitzt?«

»Abkutschiert!«

Rasch erzählte er dem Straßenjungen, daß Babet am selben Morgen bei seiner Überführung in die Conciergerie entsprungen war.

Gavroche hörte alles aufmerksam an und sparte auch nicht mit sachkundigem Lob.

»So ein Zahnreißer!« applaudierte er.

Inzwischen hatte er den Stock, den Montparnasse in der Hand trug, ergriffen und zog den Griff heraus; eine Dolchklinge wurde sichtbar.

»Ach, du hast deinen Gendarmen in einen Frack gesteckt?«

Montparnasse blinzelte ihm zu.

»Willst du denn die Polente kiefeln?«

»Wer weiß«, meinte Montparnasse kaltblütig. »Es ist immer gut, wenn die Rose ihre Dornen nicht zu Hause läßt. Und du, wohin gehst du jetzt?«

Gavroche deutete auf seine beiden Schützlinge.

»Bringe die Kleinen da zu Bett.«

»Wo denn?«

»Bei mir zu Hause.«

»Also du hast eine Wohnung? Wo denn?«

»Im Elefanten.«

»Im Elefanten?« fragte Montparnasse verwundert, obwohl er nicht gerade zu den Naturen gehörte, die leicht in Staunen geraten.

»Natürlich im Elefanten. Was ist da weiter dabei?«

Jetzt schien Montparnasse zu begreifen.

»So, im Elefanten! Wohnt sich’s dort bequem?«

»Komfortabel. Nicht dieser dumme Wind wie unter den Brücken.«

»Und wie kommst du hinein? Gibt’s ein Loch?«

»Natürlich. Aber du darfst nicht davon sprechen. Zwischen den Vorderbeinen. Die Polente hat es noch nicht bemerkt.«

»Ah, und da kletterst du rauf?«

»Im Handumdrehen. Schwubbs bin ich drin! So, und jetzt gute Nacht! Solltest du mich brauchen, kannst du mich ja dort suchen. Ich wohne Hochparterre. Kein Portier. Du fragst nach Herrn Gavroche.«

»Gut«, erwiderte Montparnasse.

Dann trennten sie sich, Montparnasse schlug die Richtung nach dem Grèveplatz, Gavroche nach der Bastille ein.

Vor zwanzig Jahren konnte man noch in der Südwestecke des Bastilleplatzes ein sonderbares Denkmal sehen, das inzwischen der Vergessenheit verfallen ist, das aber doch verdient, in Erinnerung gebracht zu werden, denn es verdankte seine Entstehung einem Antrag des »Mitglieds des Instituts und kommandierenden Generals der Armee in Ägypten«.

Wir sagten Denkmal, obwohl dieser Ausdruck nicht ganz berechtigt ist; es handelte sich gewissermaßen nur um den gewaltigen Leichnam einer napoléonischen Idee. Die Figur des Elefanten war vierzig Fuß hoch, aus Mauerwerk aufgeführt, und trug auf dem Rücken einen Turm, der einem Haus glich. Früher war dieser Turm grün angestrichen gewesen, aber die Zeit und der Regen hatten ihn geschwärzt. Was das Ganze bedeuten sollte, wußte niemand. Ursprünglich war es wohl als ein Symbol der Volkskraft gedacht. Es sah düster, rätselhaft und ungeheuerlich aus.

Nur wenige Fremde besichtigten dieses Bauwerk, und die Pariser gönnten ihm keinen Blick. So verfiel es. Jeder Winter schlug furchtbare Wunden in seine Flanken. Die Baupolizei hatte sich seit 1814 nicht mehr um das Ungetüm gekümmert. Es stand in seinem Winkel, krank und vergessen, von einem morschen Zaun umgeben, den betrunkene Kutscher gern mißbrauchten. Zwischen seinen Beinen wuchs hohes Gras.

Hierher führte Gavroche die beiden Kleinen. Er ahnte wohl, daß das Ungeheuer sie in Furcht setzen mußte, und sagte:

»Keine Bange, ihr Kleinen.«

Dann kroch er durch eine Lücke im Zaun und zog die beiden hinter sich her. Sie waren wohl etwas verschüchtert, folgten ihm aber wortlos und überließen sich dieser Vorsehung in Lumpen, die ihnen Brot gegeben und einen Unterschlupf versprochen hatte.

An den Zaun war eine Leiter gelehnt, die wohl des Tags den Arbeitern auf dem Platze nebenan diente. Gavroche richtete sie mit erstaunlicher Kraft auf und lehnte sie an eines der Vorderbeine des Elefanten. Gleich über dem oberen Ende der Leiter konnte man ein schwarzes Loch erkennen, das in den Bauch des Ungeheuers führte.

Gavroche zeigte seinen Gästen dieses Loch und sagte:

»Bitte gütigst einzutreten!«

– – – – – – – – – – -- -- -- --

Kurz vor Morgengrauen näherte sich von der Rue Saint-Antoine im Laufschritt ein Mann, überquerte den Platz der Bastille, kroch durch das Loch des Zauns und blieb unter dem Elefanten stehen. Wenn es nicht stockfinster gewesen wäre, hätte selbst ein flüchtiger Beobachter erkennen müssen, daß dieser Mann eine Nacht lang im Regen gestanden hatte. Jetzt stieß er einen Schrei aus, der keiner menschlichen Sprache angehört und wohl nur von einem Papagei wiederholt werden kann. Zweimal rief er:

»Kirikikiuuuuu!«

Auf den zweiten Schrei antwortete aus dem Bauch des Elefanten eine Knabenstimme:

»Ja.«

Gleich darauf wurde ein Brett von dem Loch im Bauch des Elefanten weggezogen, und ein Knabe glitt an einem Bein des Ungeheuers herab.

Kirikikiu galt offenbar dem Elefanten und bedeutete: Melden Sie mich Herrn Gavroche.

»Wir brauchen dich«, sagte Montparnasse kurz, »komm!« Der Junge verlangte keine weitere Aufklärung.

»Gut, gehen wir«, sagte er.

Schwierigkeiten bei der Flucht

Und folgendes geschah in dieser Nacht im Gefängnis la Force.

Babet, Brujon, Gueulemer und Thénardier hatten, obwohl Thénardier in Einzelhaft saß, verabredet, auszubrechen. Babet hatte allerdings das Geschäft am Vormittag schon auf eigene Rechnung gemacht, wie der Leser aus dem Gespräch zwischen Montparnasse und Gavroche entnommen hat. Montparnasse sollte den anderen von außen helfen.

Brujon, der einen Monat in verschärfter Haft gesessen hatte, war inzwischen tätig gewesen; er hatte einen Strick geflochten und einen Plan ausgeheckt. Früher wurden Sträflinge, die sich gegen die Disziplin vergangen hatten, in verließartigen Einzelzellen untergebracht, die aus vier Steinmauern, einer Decke aus Stein und einem Pflaster aus Fliesen bestanden, vergitterte Luken und doppelte Eisentüren hatten und nur mit einem Feldbett möbliert waren; aber diese Einzelzellen wurden schließlich allzu grausam gefunden. Jetzt bestehen sie aus einer doppelten Eisentür, einer vergitterten Luke, vier Steinmauern, einer Decke aus Stein und einem Boden aus Steinfliesen; möbliert sind sie item mit einem Feldbett. Unterschied gegen früher: jetzt heißen sie nicht Einzelzellen, sondern Strafzellen.

Gegen Mittag fällt sogar in diese Räume ein wenig Licht. Der Nachteil, den diese Einsperrung bietet, besteht darin, daß die Strafzellen, die – wie gesagt – Gott bewahre keine Einzelzellen sind, den Häftling zwar nicht zur Arbeit anhalten, ihn aber zum Sinnieren bringen.

Die Folge war, daß Brujon die Strafzelle im Besitz eines Strickes verließ. Und da er für so gefährlich galt, daß ihn der Leiter des Hofes Charlemagne nicht haben wollte, brachte man ihn in den Neubautrakt, der Bâtiment-Neuf genannt wurde. Hier fand er zunächst Gueulemer, dann einen Nagel vor: Gueulemer, das bedeutete ein neues Verbrechen, der Nagel – der versprach die Freiheit.