Brujon hatte seinerzeit seine Karriere als Dachdecker begonnen. Diese Vorkenntnisse kamen ihm jetzt um so mehr zunutze, als zur Zeit das Schieferdach des Gefängnisses ausgebessert wurde. So war der Hof Saint-Bernard nicht mehr vom Hofe Charlemagne und Saint-Louis getrennt. Auf den Dächern gab es Leitern und allerlei Gerüst – oder, von einem anderen Gesichtspunkt aus gesehen, Brücken und Treppen.
Das Bâtiment-Neuf enthielt in vier Stockwerken vier übereinanderliegende Schlafräume und schließlich einen Giebel, der Bel-Air genannt wurde. Ein Rauchabzug führte aus dem Erdgeschoß, vielleicht aus einer früheren Küche, durch alle vier Stockwerke zum Dach, wo er in einem abgeplatteten Pfeiler auslief.
Gueulemer und Brujon schliefen im selben Saal. Vorsichtshalber hatte man sie im Erdgeschoß untergebracht. Es war Zufall, daß die Kopfenden ihrer Betten an den Kamin stießen.
Thénardier saß, gerade über ihnen, in dem Giebelraum Bel-Air.
Wenn der Spaziergänger in der Rue Culture-Sainte-Catherine, hinter der Kaserne der Feuerwehr, vor dem Tor des Badehauses stehenbleibt, sieht er sich einem Hofe gegenüber, in dem in allerlei Kübeln Pflanzen gezogen werden und in dessen Hintergrunde ein kleiner, weißer Rundbau mit grünen Fensterläden sichtbar wird. Dieses Haus gleicht einem bukolischen Traum Rousseaus. Und doch stieg vor kaum zehn Jahren hinter diesem Rundbau eine gewaltige kahle, schwarze Mauer auf, an die er gelehnt war.
Es war die Mauer des Rondenweges um die Force.
So hoch diese Mauer auch war, wurde sie doch von einem noch schwärzeren Dach überragt – dem Giebel des Bâtiment-Neuf. Man konnte sogar mit freiem Auge die vergitterten Luken des Giebels und den Schornstein sehen.
Bel-Air, der Giebel des »Neubaues«, war ein großer, in Mansarden geteilter Raum, der durch dreifache Gitter und doppelte, eisenbeschlagene Türen versichert war. In einem der Käfige dieses Giebelraums war seit der Nacht des dritten Februars Thénardier untergebracht.
In vielen Gefängnissen gibt es verräterische Beamte, die halb Kerkermeister, halb Verbündete der Häftlinge sind und den Gefangenen bei ihren Ausbruchsversuchen behilflich sind. In eben jener Nacht, in der Gavroche die beiden umherirrenden Kinder auflas, erwarteten Brujon und Gueulemer, die von Babets Flucht bereits wußten, die Mitternachtsstunde, erhoben sich dann leise aus ihren Betten und begannen mit Brujons Nagel das Heizloch des Kamins zu erweitern. Wohl erwachten einige Gefangene von dem Lärm, stellten sich aber schlafend und ließen Gueulemer und Brujon gewähren. Brujon war geschickt, Gueulemer stark. Bevor der Aufseher in seiner vergitterten Zelle etwas hören und durch das Fenster in den Schlafsaal sehen konnte, waren die beiden Burschen bereits auf dem Dach. Regen und Sturm hatten zugenommen.
»Eine schöne Nacht, um auszurücken«, meinte Brujon.
Ein Lichthof von sechs Fuß Breite und achtzig Fuß Tiefe trennte die beiden von der Mauer des Rondenwegs. In der Tiefe sahen sie das Gewehr eines Postens funkeln. Sie befestigten das eine Ende des Stricks, den Brujon in der Strafzelle geflochten hatte, am Gitter des Schornsteins, warfen das andere über die Rondenmauer, überquerten den Abgrund, klammerten sich an einen Mauervorsprung und gelangten schließlich auf ein kleines Dach, das an das Badhaus stieß. Jetzt zogen sie ihren Strick nach, sprangen in den Hof des Badhauses, stießen die Tür auf und waren auf der Straße.
In knapp drei viertel Stunden hatten sie dies alles bewerkstelligt.
Einige Augenblicke später waren sie auf Babet und Montparnasse gestoßen.
Als sie den Strick nachzogen, war er zerrissen und ein Stück blieb am Schornstein hängen. Übrigens hatten die beiden Ausbrecher sich, von einigen Hautabschürfungen an den Händen abgesehen, keine Verwundung zugezogen.
Thénardier war, ohne daß man später erfahren konnte, von wem, über diesen Fluchtplan unterrichtet und schlief nicht. Gegen ein Uhr nachts, es war stockfinster, sah er auf dem Dach gegenüber seiner Luke zwei Schatten. Einer blieb eine Sekunde lang stehen. Es war Brujon. Thénardier erkannte ihn und begriff alles. Er hatte genug gesehen.
Da Thénardier unter Anklage stand, planmäßig einen bewaffneten Überfall unternommen zu haben, wurde er streng bewacht. Ein Posten, der alle zwei Stunden abgelöst wurde, ging mit geladenem Gewehr vor seinem Käfig auf und ab. Im Bel-Air brannte die ganze Nacht über eine Lampe. Der Gefangene schleppte an seinen Füßen ein paar fünfzig Pfund schwere Eisengewichte. Täglich um vier Uhr nachmittags besuchte ihn ein Wärter mit zwei Doggen (das war damals noch üblich), trat in seine Zelle, legte ein zweipfündiges Schwarzbrot auf den Boden, prüfte die Gewichte und beklopfte die Gitterstäbe. Auch zweimal des Nachts kam dieser Mann mit seinen beiden Doggen zur Kontrolle an Thénardiers Tür.
Doch hatte Thénardier die Erlaubnis erhalten, eine Art Nagel zu behalten, mit dem er das Brot an die Wand nagelte, um es, wie er sagte, vor den Ratten zu schützen. Da Thénardier beständig unter den Augen des Wachtpostens war, hatte man keinen Anstoß daran genommen, ihm diese Gunst zu gewähren. Später allerdings erinnerte man sich, daß einer der Wächter Einwände gemacht hatte:
»Man könnte ihm ja ebensogut einen Holzpflock geben …«
Um zwei Uhr morgens wurde der alte Soldat, der seit Mitternacht Posten gestanden hatte, durch einen Rekruten ersetzt. Kurz nachher machte der Mann mit seinen Doggen den zweiten Rundgang, bemerkte aber nur, daß der Wachtposten sehr jung und recht bäurisch aussah. Zwei Stunden später, um vier Uhr, wurde dieser Rekrut abgelöst. Man fand ihn auf dem Boden liegend und schlafend. Und Thénardier war nicht mehr da. Seine Fußgewichte, deren Klammern durchbrochen waren, lagen auf dem Boden. In der Decke fand man ein Loch. Ein Brett aus seiner Pritsche war herausgerissen und offenbar mitgenommen worden, denn es war nicht mehr zu finden. Schließlich entdeckte man in der Zelle eine halbvolle Flasche von jenem Wein, mit dem der Posten betäubt worden war. Auch das Bajonett des Soldaten fehlte.
Als diese Feststellungen gemacht wurden, glaubte man, Thénardier sei inzwischen über alle Berge. Er befand sich in der Tat nicht mehr im Bâtiment-Neuf, schwebte aber noch immer in großer Gefahr.
Wohl hatte er auf dem Dach des Hauses den Rest jenes Stricks gefunden, an dem Brujon hinabgeklettert war, aber dieser Strick war viel zu kurz und reichte nicht bis zur Rondenmauer.
Wenn man aus der Rue des Ballets in die Rue du Roy-de-Sicile einbiegt, so hat man zur Rechten eine dunkle Mulde. Auf dieser Stelle stand im vorigen Jahrhundert ein Gebäude, von dem auch damals nur mehr die drei Stock hohe Hinterwand übriggeblieben war. Diese Ruine zeigte noch zwei Fenster.
Die Abbruchstelle war von einem morschen Bretterzaun umfriedet; an der Straßenseite stand eine kleine Baracke. Die Tür im Zaun war noch vor einigen Jahren mit einer Klinke versehen.
Auf dem First dieser verfallenen Mauer landete Thénardier gegen drei Uhr morgens.
Wie war er dahin gelangt? Hatte er sich der Leitern bedient, welche die Dachdecker zurückgelassen hatten, und war mit ihrer Hilfe über den Hof Charlemagne, den Hof Saint-Louis und die Rondenmauer hierher gelangt? Diese Strecke zeigte Klüfte, die unüberbrückbar schienen.
Es ist oft schier unmöglich, die erstaunlichen Leistungen entspringender Sträflinge zu begreifen. Der Mann, der aus Kerkerhaft flieht, ist inspiriert. Er hat seinen besonderen Stern, der über dieser geheimnisvollen Flucht leuchtet.
Wie dem auch sei, jetzt saß Thénardier schweißtriefend, vom Regen durchnäßt, mit zerfetzten Kleidern, zerschundenen Händen, Knien und Ellbogen, auf dem Giebel jener Mauer. Er legte sich der Länge nach hin, denn er war zu Tode erschöpft.