Wären sie reicher, würde man sie elegante junge Leute nennen. Wären sie ärmer, bloß Nichtstuer. So sind sie ganz einfach Unbeschäftigte. Und unter ihnen gibt es Langweilige, Gelangweilte, Verschlafene und Schufte.
Acht oder zehn Monate nach den oben erzählten Vorfällen, in den ersten Tagen des Januars 1823, an einem verschneiten Abend, machte sich einer dieser eleganten Leute, ein solcher Unbeschäftigter, ein Vergnügen daraus, eine Person zu belästigen, die in einem tiefausgeschnittenen Ballkleid vor den Fenstern des Cafés der Offiziere auf und ab ging. Er rauchte, denn es war große Mode, zu rauchen.
Sooft die Frau an ihm vorüberkam, blies er ihr mit einer Rauchwolke aus seiner Zigarre irgendeine Bemerkung zu, die er für geistvoll oder heiter hielt:
»Bist du aber häßlich!« oder: »Du solltest dich besser verstecken!« oder: »Wo hast du denn deine Zähne vergessen?«
Dieser Herr hieß Bamatabois.
Die Frau, eine traurige Erscheinung, die im Schnee auf und ab ging, antwortete nicht, warf nicht einmal einen Blick auf ihn, sondern setzte gelassen und regelmäßig ihre Promenade fort, die sie alle fünf Minuten wie einen Spießrutenläufer an dem sarkastischen Flaneur vorüberführte. Dieser geringe Erfolg verdroß den Müßiggänger, der einen Augenblick, da sie sich umwandte, benützte, um ihr nachzuschleichen, sein Kichern zu unterdrücken, eine Handvoll Schnee vom Boden aufzunehmen und ihr zwischen die nackten Schultern zu stecken. Das Frauenzimmer schrie auf, wandte sich um, stürzte sich auf den Mann, zerkrallte ihm das Gesicht und goß eine Flut gemeiner Schimpfworte auf ihn aus.
Auf den Lärm kamen Offiziere in Mengen aus dem Café heraus, Passanten blieben stehen, es bildete sich ein vergnügter Kreis, der brüllend und applaudierend die beiden Kämpfenden einschloß. Der Mann wehrte sich nach Kräften, sein Hut war bereits zu Boden gefallen; die Frau stieß mit Händen und Füßen nach ihm, brüllte vor Wut und Haß.
Plötzlich trat ein hochgewachsener Mann aus dem Kreise, griff das Frauenzimmer an ihrem kotbespritzten Seidenmieder und sagte:
»Komm mit.«
Sie blickte auf. Sofort verstummte ihre kreischende Stimme. Ihre Augen wurden starr, sie zitterte. Sie hatte Javert erkannt.
Der elegante junge Herr benützte diesen Zwischenfall, um sich aus dem Staub zu machen.
Probleme der städtischen Polizei
Javert drängte die Zuschauer beiseite, durchbrach den Kreis und ging in großen Schritten zum Polizeibüro, das sich am anderen Ende des Platzes befand; die Unglückliche zerrte er hinter sich her. Sie wehrte sich nicht. Kein Wort wurde gewechselt. Die Zuschauer, aufs höchste vergnügt, folgten den beiden scherzend und lachend. Auch das tiefste Elend ist eine Gelegenheit zu gemeinen Späßen.
Im Polizeibüro angelangt, das aus einem niedrigen, überheizten Zimmer mit einem vergitterten Fenster und einer Glastüre bestand, trat Javert mit Fantine ein und versperrte die Tür zum großen Mißbehagen der Neugierigen, die sich auf die Zehenspitzen stellten und ihre Hälse reckten, um etwas zu sehen. Die Neugierde ist eine Art Leckerei. Man sieht, wie man eine Delikatesse verschlingt.
Fantine war in einer Ecke niedergekauert, wie eine furchtsame Hündin. Der Sergeant brachte eine brennende Kerze herein und stellte sie auf den Tisch. Javert setzte sich, zog ein Stempelpapier aus der Tasche und begann zu schreiben.
Die Dirnen sind durch unsere Gesetzgebung vollkommen der Willkür der Polizei ausgeliefert. Die Polizei springt mit ihnen um, wie sie will, bestraft sie nach Gutdünken und vergewaltigt nach Belieben die beiden traurigen Rechte, die von diesen Frauen ihr Gewerbe und ihre Freiheit genannt werden.
Javert war kalt. Sein ernstes Gesicht verriet keinerlei Erregung. Und doch war er stark in Anspruch genommen. Das war einer jener Augenblicke, wo er ohne Kontrolle, aber mit der ganzen Gewissenhaftigkeit seines Wesens, diese furchtbare Gewalt ausübte. Er fühlte, daß sein elender Polizeiagentenstuhl ein Tribunal war. Er hatte zu urteilen, zu verurteilen. Er brachte alles, was an Gedanken in seinem Kopf war, auf, um dieser großen Sache gerecht zu werden. Je mehr er die Tat jener Dirne prüfte, um so tiefer war seine Entrüstung. Sie hatte unverkennbar ein schweres Verbrechen begangen. Er selbst hatte es gesehen, wie dieses Geschöpf, das außerhalb der Gesetze stand, die Gesellschaft – in Person eines Grundbesitzers und Wählers erster Klasse – beleidigt und geschändet hatte. Eine Prostituierte hatte einen Bourgeois angegriffen. Er hatte es selbst gesehen, Javert.
Schweigend schrieb er.
Als er fertig war, unterzeichnete er das Schriftstück, faltete es zusammen und übergab es dem Sergeanten mit den Worten:
»Nehmen Sie drei Mann und bringen Sie diese Person ins Loch.«
Zu Fantine aber sagte er:
»Du hast sechs Monate abzubrummen.«
Die Unglückliche erzitterte.
»Sechs Monate! Sechs Monate Gefängnis!« rief sie, »und nur sieben Sous Verdienst im Tag! Was soll aus Cosette werden? Ich schulde den Thénardiers noch mehr als hundert Franken, Herr Inspektor, wissen Sie das?«
Sie kroch auf dem von den schmutzigen Stiefeln all dieser Männer verunreinigten Boden mit gerungenen Händen zu Javert hin und jammerte.
»Seien Sie gnädig, Herr Javert! Ich schwöre es Ihnen, ich war nicht schuld. Wenn Sie von Anfang an dabeigewesen wären, hätten Sie es selbst gesehen. Dieser Herr, den ich nicht kenne, hat mir Schnee in den Rücken gestopft. Darf man uns denn Schnee in den Rücken stopfen, wenn wir ruhig an den Leuten vorübergehen und niemandem etwas tun? Da bin ich wütend geworden. Ich bin nicht ganz gesund. Und schon seit einiger Zeit hat er mir immer grobe Sachen gesagt. Du bist häßlich, hat er gesagt, und du hast ja keine Zähne. Ich weiß doch, daß ich keine Zähne habe. Ich habe nichts getan, ich dachte, laß den Herrn sich amüsieren. Ich benahm mich anständig und sagte nichts. Da hat er mir den Schnee in den Rücken gestopft. Lieber, guter Herr Inspektor, ist denn niemand dabeigewesen, der bestätigen kann, daß es so gewesen ist? Vielleicht war es nicht recht von mir, in Wut zu geraten. Aber Sie wissen doch, im ersten Augenblick ist man seiner selber nicht Herr. Es geht einfach mit einem durch. Und dann plötzlich diese Kälte am Rücken, wenn man sich’s gar nicht versieht. Gewiß war es falsch, daß ich dem Herrn den Hut heruntergeschlagen habe. Warum ist er nur weggegangen? Ich würde ihn um Verzeihung bitten. Mein Gott, es käme mir nicht darauf an, ihn um Verzeihung zu bitten. Lassen Sie mich diesmal noch durchrutschen, Herr Javert, bedenken Sie doch, im Gefängnis verdient man sieben Sous täglich, und ich habe hundert Franken zu bezahlen, sonst jagt man meine Kleine fort. Mein Gott, ich kann sie doch nicht bei mir haben. Mit dem gemeinen Beruf … Schicken Sie mich nicht ins Gefängnis. Wenn die Kleine nicht gar so jung wäre, könnte sie ja selbst ihr Brot verdienen, aber in dem Alter geht es doch noch nicht. Ich bin von Natur aus gar keine schlechte Frau. Nur die Faulheit und die Lust, gut zu leben, haben mich so weit gebracht. Branntwein habe ich getrunken, aber nur, weil ich im Elend war, ich mag ihn gar nicht, aber man vergißt alles, wenn man davon trinkt. Als ich noch glücklicher war, hätte man nur in meinen Schrank schauen müssen, da hätte man schon gesehen, daß ich nicht ein kokettes Frauchen war, das unordentlich lebt. Wäsche hatte ich, so viel Wäsche! Erbarmen Sie sich, Herr Javert!«
Man erweicht ein Herz aus Granit. Aber ein Herz aus Holz ist nicht zu rühren.