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»Wie fühlen Sie sich?«

»Gut. Ich habe geschlafen. Ich glaube, es geht schon besser.«

Madeleine hatte die Nacht und den Morgen damit zugebracht, Erkundigungen einzuziehen. Jetzt wußte er alles, kannte alle Einzelheiten aus Fantines trauriger Geschichte.

»Sie haben viel gelitten«, sagte er. »Aber beklagen Sie sich nicht, die Hölle, die Sie jetzt verlassen, ist der Zugang zum Himmel. Man muß immer so anfangen.«

Er seufzte tief.

Noch in derselben Nacht schrieb Javert einen Brief. Er trug ihn selbst am nächsten Morgen zum Postbüro von Montreuil sur Mer. Die Anschrift lautete: »An Herrn Chabouillet, Sekretär des Herrn Polizeipräfekten.« Da der Vorfall sich bereits in der Stadt herumgesprochen hatte, vermutete die Posthalterin, die den Brief zu sehen bekam und Javerts Schrift erkannte, er reichte seine Entlassung ein.

Madeleine beeilte sich, an die Thénardiers zu schreiben. Fantine schuldete ihnen hundertzwanzig Franken. Er sandte dreihundert, wies sie an, sich vollends bezahlt zu machen und das Kind sofort nach Montreuil sur Mer zu bringen, da die Mutter erkrankt sei und es zu sehen wünsche.

»Hol’s der Teufel«, sagte Thénardier zu seiner Frau, »dieses Kind geben wir nicht so ohne weiteres her. Das wird ja noch eine Milchkuh. Mir wird allerlei klar. Irgendein Idiot hat sich in die Mutter vergafft.«

So sandte er eine sehr geschickt aufgestellte Rechnung über fünfhundert und einige Franken. Sie enthielt unter anderem zwei unanfechtbare Posten, eine Ärzte- und eine Apothekerrechnung; Eponine und Azelma hatten nämlich lange Krankheiten überstanden. Cosette war, wir sagten es schon, niemals krank gewesen. Man hatte nur die Namen ausgetauscht. Auf der Rechnung stand, von Thénardiers Hand geschrieben:

»Als Anzahlung erhalten … 300 Franken.«

Madeleine sandte unverzüglich weitere dreihundert Franken und schrieb:

»Bringen Sie sofort Cosette.«

»Himmelherrgott«, sagte Thénardier, »dies Kind behalten wir.«

Inzwischen verbesserte sich Fantines Zustand nicht. Sie lag noch immer im Spital.

Madeleine besuchte sie täglich zweimal.

»Werde ich Cosette bald sehen?« fragte sie immer wieder.

»Vielleicht schon morgen früh«, antwortete er. »Sie kann jeden Augenblick eintreffen, ich erwarte sie.«

Dann strahlte das Gesicht der Mutter.

»Oh, ich werde sehr glücklich sein!«

Doch begann ihr Zustand sich jetzt sogar von Woche zu Woche zu verschlimmern.

Diese Handvoll Schnee, zwischen den Schulterblättern auf die nackte Haut gedrückt, hatte eine plötzliche Unterdrückung der Transpiration zur Folge gehabt, und jetzt brach die seit Jahren zurückgehaltene Krankheit heftig durch. Man folgte damals in der Behandlung der Brustkrankheiten den Indikationen Laënnecs. Der Arzt untersuchte Fantine und schüttelte den Kopf.

Madeleine befragte ihn: »Nun?«

»Hat sie nicht ein Kind, das sie zu sehen wünscht?«

»Nun, dann beeilen Sie sich, es kommen zu lassen.«

Madeleine zitterte. »Was hat der Arzt gesagt«, fragte Fantine.

Madeleine bemühte sich, zu lächeln.

»Er sagt, wir sollen Ihr Kind bald holen. Das wird Ihnen die Gesundheit bald wiedergeben.«

»Oh, er hat recht! Was haben diese Thénardiers nur, daß sie Cosette behalten? Ach, sie wird kommen. Dann werde ich das Glück bei mir haben.«

Thénardier indessen behielt das Kind und fand tausend Ausflüchte. Cosette sei ein wenig leidend, jetzt im Winter dürfe sie nicht reisen. Auch wären noch einige unbedeutende Schulden zu bezahlen, über die noch keine Rechnungen vorlägen.

»Ich werde jemand um Cosette schicken«, entschied Vater Madeleine. »Wenn es sein muß, fahre ich selbst hin.«

Er schrieb folgenden Brief und ließ Fantine unterzeichnen:

»Herr Thénardier, übergeben Sie Cosette dem Überbringer.

Die kleinen Restschulden werden Ihnen bezahlt werden.

Hochachtungsvoll

Fantine.«

Wie Jean zu Champ wird

Eines Morgens war Madeleine in seinem Arbeitszimmer damit beschäftigt, einige dringende Angelegenheiten des Bürgermeisteramts voraus zu regeln, für den Fall, daß er selbst nach Montfermeil reisen müßte, als ihm gemeldet wurde, der Polizeiinspektor wünsche mit ihm zu sprechen. Als Madeleine diesen Namen hörte, konnte er sich einer peinlichen Empfindung nicht erwehren. Seit dem Vorfall im Polizeibüro hatte Javert ihn scheuer gemieden als je, und Madeleine hatte ihn nicht zu sehen bekommen.

»Lassen Sie ihn eintreten«, sagte er.

Madeleine blieb neben dem Kamin sitzen, die Augen auf ein Aktenbündel gerichtet, in dem er blätterte und Notizen eintrug. Er unterbrach seine Arbeit Javerts wegen nicht. Er mußte an die arme Fantine denken und wollte ihn eisig behandeln.

Javert grüßte respektvoll den Bürgermeister, der ihm noch immer den Rücken zuwandte. Er trat zwei oder drei Schritte vor, dann blieb er stehen, ohne das Schweigen zu brechen.

Ein Physiognomiker, der mit Javerts Art vertraut gewesen wäre und diesen Wilden im Dienste der Zivilisation, diese bizarre Mischung aus Römer und Spartaner, Mönch und Korporal, diesen Spitzel, der nicht zu lügen vermochte, seit längerer Zeit studiert hätte, ein solcher Physiognomiker, der noch dazu die alte geheime Abneigung Javerts gegen Madeleine gekannt und den Inspektor in diesem Augenblick gesehen hätte, wäre vor die Frage gestellt worden: Was ist mit diesem Mann vorgegangen? Offenbar hatte er eine heftige innere Erschütterung überstanden. Wie alle heftigen Menschen war er jähen Stimmungsumschlägen ausgesetzt. Wie er so eintrat und sich vor Madeleine verneigte, mit einem Blick ohne Groll, Zorn und Mißtrauen, wie er einige Schritte hinter dem Lehnstuhl des Bürgermeisters stehenblieb, fast in der Haltung eines Schuljungen, in der naiven Gebärde eines Menschen, der nie sanft, aber immer geduldig war, machte er einen höchst seltsamen und verblüffenden Eindruck. Er wartete, ohne ein Wort zu sagen oder sich zu bewegen, in aufrichtiger Demut und ruhiger Ergebung, bis es dem Herrn Bürgermeister belieben würde, sich umzuwenden. Sein ganzes Wesen atmete Niedergeschlagenheit und Entschlossenheit zugleich.

Endlich legte der Bürgermeister die Feder beiseite und wandte sich halb um.

»Nun, was gibt’s, Javert?«

Javert blieb einen Augenblick stehen, als ob er sich sammle, dann sagte er mit trauriger Feierlichkeit, aber doch einfach:

»Herr Bürgermeister, ein schweres Vergehen ist begangen worden.«

»Was denn?«

»Ein niedriger Beamter hat es an Respekt gegen eine übergeordnete Persönlichkeit fehlen lassen. Ich komme zu Ihnen, Herr Bürgermeister, um Ihnen diese Tatsache pflichtgemäß zur Kenntnis zu bringen.«

»Wer ist der Beamte?«

»Ich«, sagte Javert.

»Sie selbst?«

»Jawohl, Herr Bürgermeister.«

»Und wer ist der Vorgesetzte, der sich über Sie zu beklagen hat?«

»Sie, Herr Bürgermeister.«

Madeleine richtete sich in seinem Lehnstuhl auf. Javert fuhr ernst und mit gesenkten Augen fort:

»Herr Bürgermeister, ich bitte Sie, meine Amtsentsetzung zu beantragen.«

Madeleine wollte sprechen. Aber Javert fiel ihm ins Wort.

»Sie werden sagen, Herr Bürgermeister, daß ich meine Entlassung einreichen könnte, aber das genügt nicht. Man nimmt seinen Abschied in allen Ehren. Ich aber habe ein Vergehen begangen und muß bestraft werden. Ich muß aus dem Dienst gejagt werden«, und nach einer Pause fuhr er fort: »Sie sind unlängst mit Unrecht streng gegen mich gewesen. Seien Sie es diesmal mit Recht.«

»Aber was denn?« rief Madeleine, »was soll das alles nur? Wo ist denn dieses Vergehen, das Sie gegen mich begangen haben? Sie wollen aus dem Dienst ausscheiden …«