»Entlassen werden.«
»Gut, entlassen werden. Aber ich verstehe kein Wort.«
»Sie werden gleich verstehen, Herr Bürgermeister.« Er seufzte tief auf, dann fuhr er traurig und kalt fort: »Vor sechs Wochen, gleich nach jener Szene mit dem Mädchen, habe ich Sie in meinem Zorn denunziert.«
»Denunziert?«
»Bei der Pariser Polizeipräfektur.«
Madeleine pflegte nicht öfter zu lachen als Javert, aber jetzt lachte er.
»Weil ich als Bürgermeister mich über die Polizei gestellt habe?«
»Nein, als alten Galeerensträfling.«
Der Bürgermeister erblaßte.
Ohne aufzublicken, fuhr Javert fort:
»Ich glaubte es selbst. Seit langem ging mir das im Kopf herum. Eine Ähnlichkeit, eine Auskunft, die Sie in Faverolles eingeholt haben, Ihre Kraft, Ihr Bein, das ein wenig lahmt, weiß Gott, was noch alles! Dummheiten! Aber schließlich kam ich so weit, daß ich Sie für einen gewissen Jean Valjean hielt.«
»Für einen gewissen …? Wie war der Name?«
»Jean Valjean. Das ist ein Galeerensträfling, den ich vor zwanzig Jahren sah, als ich in Toulon im Dienst war. Als er aus dem Bagno entlassen wurde, hat dieser Jean Valjean, wie behauptet wird, bei irgendeinem Bischof einen Diebstahl begangen. Dann ist er verschwunden, und seit acht Jahren hat man ihn vergeblich gesucht. Ich hatte mir fest eingebildet … nun, ich habe es getan. Zum Schluß gab der Zorn den Ausschlag, ich habe Sie bei der Präfektur angezeigt.«
Madeleine hatte das Aktenbündel wieder vorgenommen und fragte vollkommen gleichgültig:
»Und was hat man Ihnen geantwortet?«
»Daß ich ein Narr bin.«
»Nun, und?«
»Nun, man hat recht.«
»Es ist ein Glück, daß Sie das einsehen.«
»Ich muß wohl, denn der richtige Jean Valjean ist gefunden.«
Das Blatt, das Herr Madeleine in Händen hielt, fiel auf den Tisch, er hob den Kopf, sah Javert fest an und rief mit unbeschreiblichem Ausdruck:
»Im Ernst?«
»So ist es, Herr Bürgermeister. Irgendwo bei Ailly-le-Haut-Clocher wohnt ein Kerl, der sich Champmathieu nennen läßt. Ein armseliger Mensch. Niemand achtet auf ihn. Solche Leute leben eben … wovon, das weiß niemand. Kürzlich, im letzten Herbst, ist dieser Champmathieu verhaftet worden, weil er bei irgendeinem … es ist ja gleichgültig … Mostäpfel gestohlen hat. Also Diebstahl, Einbruch in einen Garten, Beschädigung eines Baumes durch Abbrechen von Ästen. Mein Champmathieu wird verhaftet, mit dem Ast in der Hand. Man sperrt ihn ein. Das ist nichts weiter als ein kleines Vergehen, nicht der Rede wert. Aber hier setzt die Vorsehung ein. Der Polizeikutter war in unmöglichem Zustand, darum läßt der Untersuchungsrichter Champmathieu nach Arras ins Departementsgefängnis bringen. Dort sitzt ein alter Galeerensträfling, ein gewisser Brevet, den man noch immer zurückhält, der aber, weil er sich gut geführt hat, Zellenaufseher geworden ist. Herr Bürgermeister, stellen Sie sich vor: Dieser Champmathieu ist noch nicht in der Zelle, da ruft dieser Brevet auch schon: ›Ach, den kenn ich ja! Der ist „Langjähriger“. Schau mich doch nur an, mein Bester! Du bist Jean Valjean. Jean Valjean?‹ Der Champmathieu tut ganz erstaunt. ›Tu nicht, als ob du von gestern wärst‹, sagte Brevet. ›Du bist Jean Valjean und warst in Toulon im Bagno, vor zwanzig Jahren. Wir kennen uns von dort!‹ Champmathieu leugnet natürlich. Das ist ja begreiflich. Man geht der Sache nach und findet folgendes: dieser Champmathieu war vor dreißig Jahren Baumscherer in verschiedenen Orten, unter anderm auch, wie ausdrücklich festgestellt worden ist, in Faverolles. Dann geht seine Spur verloren. Viel später taucht er in der Auvergne auf, dann in Paris, wo er, wie behauptet wird, Zimmermann war und eine Tochter hatte, eine Wäscherin. Aber das ist nicht bewiesen. Was war also dieser Jean Valjean, bevor er wegen erwiesenen Diebstahls auf die Galeeren kam? Baumscherer. Wo? In Faverolles. Noch etwas. Dieser Valjean hieß mit seinem Taufnamen Jean und seine Mutter mit Familiennamen Mathieu. Was ist begreiflicher, als daß er nach seiner Flucht aus dem Bagno den Namen seiner Mutter annahm, um seine Spur zu verwischen, und sich Jean Mathieu nannte? Gut, er ging in die Auvergne. Dort sagt man nicht Jean, man spricht den Namen dort Schan aus und nennt ihn kurzerhand Schan Mathieu. Das läßt sich der Mann gern gefallen und schreibt sich von nun an Champmathieu. Sind Sie mir gefolgt? Nun, man zieht in Faverolles Erkundigungen ein. Die Familie des Jean Valjean existiert nicht mehr. Spurlos verschwunden. Sie wissen, in diesen Kreisen verschwindet eine Familie, ohne daß etwas auffällt. Wenn solche Leute nicht gerade im Kot leben, so doch im Staub. Auch liegt diese ganze Geschichte dreißig Jahre zurück, und in Faverolles ist kein Mensch zu finden, der sich an Jean Valjean erinnert. Man fragt in Toulon nach. Außer Brevet sind noch zwei Sträflinge da, die Jean Valjean gekannt haben, zwei ›Lebenslängliche‹, Cochepaille und Chenildieu. Man holt sie aus dem Bagno und schafft sie nach Arras. Sie werden dem angeblichen Champmathieu gegenübergestellt. Ohne zu zögern, entscheiden sie sich. Er ist für sie, wie für Brevet, Jean Valjean. Dasselbe Alter – vierundfünfzig Jahre – dieselbe Figur, dasselbe Aussehen, nun, der gleiche Mann. Das war gerade in dem Augenblick, als ich meine Denunziation an die Pariser Präfektur sandte. Man antwortet mir, ich sei wohl verrückt, der besagte Jean Valjean befinde sich in Arras und sei in den Händen der Justiz. Sie begreifen, wie erstaunt ich war, da ich doch glaubte, eben diesen Jean Valjean hier am Wickel zu haben. Ich schrieb dem Untersuchungsrichter. Er läßt mich kommen, ich werde dem Champmathieu gegenübergestellt …«
»Nun?«
Unbeirrbar und traurig fährt Javert fort:
»Herr Bürgermeister, was wahr ist, muß wahr bleiben. Es tut mir leid, aber er ist Jean Valjean. Auch ich habe ihn wiedererkannt.«
Madeleine fragte sehr leise: »Sind Sie dessen sicher?«
Javert lachte schmerzlich auf, wie jemand, der vollkommen überzeugt ist.
»Ganz sicher. Und jetzt, nachdem ich den wirklichen Jean Valjean gesehen habe, begreife ich gar nicht, wie ich das andere auch nur glauben konnte. Ich bitte Sie um Verzeihung, Herr Bürgermeister.«
So flehend und ernst er auch die Bitte an jenen Mann richtete, der ihn vor sechs Wochen vor seinen Untergebenen gedemütigt hatte, war doch seine Haltung stolz und, wenn auch unbewußt, voll Einfachheit und Würde. Madeleine antwortete nur mit der jähen Frage:
»Und was sagt der Mann?«
»Ja, Herr Bürgermeister, das ist eine schlimme Sache. Da er Jean Valjean ist, wird er als rückfälliger Verbrecher behandelt. Wenn ein Junge eine Mauer übersteigt, einen Ast abbricht und Äpfel klaut, so ist es ein dummer Streich; tut es ein Mann, so ist es ein Vergehen; für einen ehemaligen Sträfling ist es ein Verbrechen. Einbruch und Diebstahl heißt das dann. Das geht nicht mehr die Polizei an, sondern die Assisen. Jetzt geht es nicht mehr um ein paar Tage Haft, sondern um lebenslänglichen Dienst auf den Galeeren. Hol’s der Teufel, der Kerl weiß, wozu er leugnet! Schwere Sache für einen andern als diesen Jean Valjean. Aber der ist pfiffig. Auch daran erkenne ich ihn wieder. Ein anderer würde es mit der Angst kriegen, würde jammern und schreien, alles ableugnen, um keinen Preis Jean Valjean sein wollen. Er aber tut, als ob er gar nichts begriffe. Er sagt: ich bin Champmathieu, mehr weiß ich nicht. Er tut verwundert und spielt den Blöden. Ein geschickter Kerl. Aber es wird ihm nichts nützen, man hat ja die Beweise in Händen. Er ist von vier Personen wiedererkannt, der alte Gauner, und wird unweigerlich verurteilt. Die Sache wird bei den Assisen in Arras verhandelt. Ich selbst bin als Zeuge geladen.«
Madeleine hatte sich wieder abgewandt, seine Aktenmappe aufgeschlagen und las wie ein vielbeschäftigter Mann. Endlich sah er sich nach Javert um.
»Genug, Javert. Im Grunde genommen sind diese Einzelheiten für mich uninteressant. Wir verlieren unsere Zeit, und wir haben Dringenderes zu tun. Gehen Sie zunächst zu Frau Buseaupied, der Gemüsehändlerin an der Ecke der Rue Saint-Saulve. Sagen Sie ihr, sie möchte ihre Klage gegen den Fuhrmann Pierre Chesnelong einreichen. Dieser Lümmel hat neulich die Frau und ihr Kind verletzt. Er soll bestraft werden. Dann gehen Sie zu Herrn Charcellay in der Rue Montre de Champigny. Er beklagt sich, daß eine Regentraufe des Nachbarhauses Wasser auf sein Grundstück ableitet und seine Bauten unterwäscht. Aber haben Sie denn auch Zeit, alles das zu erledigen? Wann fahren Sie nach Arras?«