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»Die Verhandlung ist morgen, ich reise heute abend mit der Post.«

Madeleine machte eine fast unmerkliche Bewegung.

»Wie lange kann diese Verhandlung dauern?«

»Höchstens einen Tag. Das Urteil wird spätestens am selben Abend gefällt. Ich warte aber nicht darauf, der Ausgang ist ja unzweifelhaft. Sobald ich meine Aussage gemacht habe, fahre ich zurück.«

»Gut«, sagte Madeleine und verabschiedete Javert mit einer Handbewegung. Aber der ging nicht.

»Verzeihung, Herr Bürgermeister …«

»Was gibt’s denn noch?«

»Ich muß doch aus dem Dienst gejagt werden.«

Madeleine stand auf.

»Sie sind ein Ehrenmann, Javert, und ich achte Sie. Sie übertreiben Ihr Vergehen. Auch dies ist eine Beleidigung, die nur mich angeht. Ich wünsche, daß Sie auf Ihrem Platze verbleiben.«

»Herr Bürgermeister, das geht nicht.«

»Aber ich sage Ihnen doch, daß das meine Sache ist.«

Javert, ganz seinen eigenen Gedanken nachhängend, erwiderte:

»Nein, ich übertreibe nicht. Für mich stellt sich die Sache folgendermaßen dar. Ich hatte Sie in falschem Verdacht. Das macht nichts aus. Schließlich ist es ja unsere Pflicht, jedem Verdacht nachzugehen. Aber ohne Beweise in Händen, in einem Anfall von Zorn, aus reiner Rachsucht Sie, einen Ehrenmann, einen Bürgermeister, einen Beamten als Galeerensträfling zu denunzieren, das ist sehr schlimm. Ich habe in Ihnen die Obrigkeit beleidigt, ich, der ich ein Diener der Obrigkeit bin. Wenn einer meiner Untergebenen so etwas täte, würde ich ihn für dienstunfähig erklären und fortjagen. Also …! Und noch eines, Herr Bürgermeister, ich war oft streng in meinem Leben, streng gegen die andern. Das war nur gerecht. Wenn ich aber nicht auch gegen mich streng wäre, wäre alle meine frühere Gerechtigkeit nur Lumperei. Darf ich mich denn mehr schonen als die andern? Wäre ich dazu befähigt gewesen, irgend jemanden zu bestrafen, wenn ich mich selbst schonte? Ich wäre ja ein Schuft, ich wünsche nicht, daß Sie mich gütig behandeln, denn als Sie zu andern gütig waren, habe ich es auch nicht gewollt. Darum darf ich es auch nicht für mich annehmen. Eine Güte, die es zuwege bringt, einer gemeinen Hure gegen einen Bürger recht zu geben, einem Polizeiagenten gegen einen Bürgermeister, kurz, dem Niedrigen gegen den Hochgestellten, das ist eine schlechte Güte; solch eine Güte müßte die Grundfesten der Gesellschaft zerstören. Seien Sie versichert, Herr Bürgermeister, wenn Sie der wären, für den ich Sie hielt, wäre ich gar nicht gut zu Ihnen, das hätten Sie wohl gemerkt! Im Interesse des Dienstes verlange ich, daß ein Exempel statuiert wird. Ich verlange ganz einfach die Dienstenthebung des Inspektors Javert.«

Alles das war in einem zugleich demütigen und stolzen, verzweifelten und festen Ton gesprochen.

»Nun, wir werden ja sehen«, meinte Madeleine. Und er reichte ihm die Hand. Javert fuhr zurück und rief zornig:

»Herr Bürgermeister, das geht nicht, ein Bürgermeister hat einem gemeinen Spitzel nicht die Hand zu geben.«

Dann verneigte er sich und ging.

Siebentes Buch

Der Fall Champmathieu

Schwester Simplice

An dem Nachmittage nach Javerts Besuch ging Madeleine wie gewöhnlich zu Fantine. Bevor er an ihr Bett trat, ließ er Schwester Simplice rufen.

Die beiden Nonnen, die in Madeleines Spital Dienst taten, waren Lazaristinnen – wie alle barmherzigen Schwestern – und hießen Schwester Perpetua und Schwester Simplicia.

Perpetua war eine Bäuerin wie jede andere auch, eine plumpe Person, die bei Gott in Dienst getreten war, wie man sonstwo in Dienst tritt. Nonne war sie, wie man Köchin ist. Diese Type ist nicht besonders selten. Die Klöster nehmen solche Bauersleute gern auf und bilden aus ihnen leicht Kapuziner und Ursulinerinnen. Diese groben Leute vom Land leisten gewissermaßen die religiöse Hausarbeit. Man wird unschwer vom Kuhhirten zum Karmeliter. Das kostet keine große Mühe. Das Leben auf dem Dorf und im Kloster setzt die gleiche Unwissenheit voraus, Mönch und Bauer stehen auf der gleichen Stufe. Man verlängere ein wenig den Kittel, und die Kutte ist fertig. So war auch Schwester Perpetua, die aus Marines bei Pontoise stammte, eine Nonne, die ihren Dialekt beibehalten hatte, mit den Kranken nicht sonderlich schonungsvoll umging und sogar einem Sterbenden den lieben Gott ins Gesicht warf, wenn es darauf ankam.

Schwester Simplice war weiß wie Wachs, und wenn man sie mit Perpetua verglich, war sie eine Wachskerze gegen ein Stearinlicht. Wie alt sie war, hätte niemand anzugeben gewußt, denn sie sah nicht aus, als ob sie jemals jung gewesen wäre oder einmal alt werden sollte. Jedenfalls war sie ein Geschöpf – wir wagen nicht zu sagen, eine Frau – von großer Ruhe, gutem Betragen, kühlem Empfinden … und sie hatte nie gelogen. So sanft war sie, daß sie gebrechlich scheinen konnte, aber doch wieder hart wie Granit. Die Kranken faßte sie mit sanften, weichen Fingern an. In ihrer Rede war, möchten wir sagen, schon das Schweigen, denn sie sprach nur das Allernötigste, und ihre Stimme war so sanft, daß sie im Beichtstuhl ebenso angenehm geklungen hätte wie im Salon. Wir sagten bereits, daß sie niemals gelogen oder auch nur aus berechtigtem Interesse oder gleichgültig irgend etwas gesagt hatte, was nicht die reinste Wahrheit war; das war ihr besonderer Wesenszug, ihre betonte Tugend. Wegen dieser unbeirrbaren Wahrheitsliebe war sie in der ganzen Kongregation berühmt. Als sie bei dem heiligen Vincenz von Paula ihr Gelübde ablegte, hatte sie den Namen Simplicia gewählt. Die Sizilianerin Simplicia ist, wie der Leser wohl weiß, jene Heilige, die sich lieber die Brüste ausreißen ließ als sagte, sie sei aus Segesta, da sie doch in Syrakus geboren war – obwohl diese Lüge ihr das Leben gerettet hätte. Das war die passende Schutzheilige für dieses Geschöpf.

Als sie in den Orden eingetreten war, war sie mit zwei kleinen Fehlern behaftet, von denen sie sich allmählich etwas entwöhnt hatte; sie liebte Süßigkeiten und bekam gern Briefe.

Dieses fromme Mädchen hatte eine Zuneigung zu Fantine gefaßt, deren verborgene Tugend sie wohl fühlte, und hatte sich zu ihrer besonderen Pflege erbötig gemacht. Madeleine nahm sie beiseite und empfahl ihr Fantine mit einem Nachdruck, der der Schwester später noch oft in Erinnerung kam.

Dann trat er zu Fantine.

Sie erwartete jeden seiner Besuche wie einen Lichtstrahl. Zu der Schwester hatte sie gesagt: »Ich lebe nur, wenn der Herr Bürgermeister da ist.«

An diesem Tage hatte sie schweres Fieber. Als sie Madeleine erkannte, fragte sie:

»Und Cosette?«

»Bald«, antwortete er lächelnd.

Er behandelte sie auch diesmal wie gewöhnlich, nur blieb er zu Fantines großer Freude eine ganze Stunde. Es wurde auch bemerkt, daß er einmal plötzlich sehr düster wurde. Man erklärte es sich aber daraus, daß der Arzt ihm leise gesagt hatte: »Es kann nicht mehr lange dauern.«

Schwester Simplice wird auf die Probe gestellt

Fantine verbrachte eine schlechte Nacht. Der Husten war schrecklich, das Fieber nahm an Stärke zu. Sie phantasierte. Als der Arzt am Morgen kam, lag sie im Delirium. Er zeigte sich beunruhigt und ordnete an, daß er gerufen werden sollte, sobald Herr Madeleine käme.

Den ganzen Vormittag war sie stumpf, sprach wenig, und ihre Augen waren starr. Nur von Zeit zu Zeit leuchteten sie auf, wie von einem himmlischen Licht durchflutet. Wenn Schwester Simplice sie nach ihrem Befinden befragte, sagte sie: