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»Danke, es geht mir gut, aber ich möchte Herrn Madeleine sehen.«

Gegen zwölf kam der Arzt, stellte einige Rezepte aus, erkundigte sich, ob der Herr Bürgermeister im Krankenhaus gewesen sei, und ging kopfschüttelnd weg.

Gewöhnlich erschien Herr Madeleine gegen drei Uhr bei der Kranken. Da Pünktlichkeit ein Teil der Güte ist, war er auch pünktlich. Schon gegen halb drei begann Fantine unruhig zu werden. In einem Zeitraum von zwanzig Minuten fragte sie die Nonne wohl zehnmaclass="underline"

»Wie spät mag es sein, Schwester?«

Es schlug drei. Beim dritten Schlag setzte sich Fantine auf, obwohl sie sich sonst kaum im Bett bewegen konnte, faltete krampfhaft ihre fleischlosen, gelben Hände, und die Nonne hörte sie tief aufseufzen. Dann wandte sie sich zur Seite und richtete den Blick auf die Tür.

So verging eine halbe, eine ganze Stunde. Es wurde fünf. Die Schwester hörte, wie sie leise sagte: »Morgen muß ich fort, er hätte heute kommen können.« Auch Simplice war über Madeleines Verspätung verwundert. Sie sandte eine Magd in die Fabrik, um sich zu erkundigen, ob der Herr Bürgermeister schon zu Hause sei und ob er heute nicht ins Spital käme. Bald war die Magd zurück. Fantine lag noch immer reglos und schien ihren Gedanken nachzuhängen. Leise erzählte die Magd Schwester Simplice, der Herr Bürgermeister sei am selben Morgen in einem kleinen Tilbury allein, ja sogar ohne Kutscher fortgefahren, ohne daß man wüßte, wohin er sich gewandt habe. Leute wollten ihn auf der Straße nach Arras gesehen haben, während andere versicherten, sie seien ihm auf der Pariser Straße begegnet.

Während die beiden Frauen miteinander flüsterten, hatte sich Fantine, in der das Fieber wieder aufflackerte, im Bette aufgesetzt und lauschte, mit geballten Fäusten auf das Kissen gestützt. Plötzlich rief sie:

»Sie sprechen von Herrn Madeleine. Warum sprechen Sie so leise? Was ist mit ihm? Warum kommt er nicht?«

Ihre Stimme war so rauh, daß die beiden Frauen eine Männerstimme zu hören glaubten und sich erschrocken umwandten.

»Antworten Sie doch!« rief Fantine.

Stammelnd sagte die Magd: »Die Frau des Hauswarts hat mir gesagt, er könne heute nicht kommen.«

»Bleiben Sie ruhig, mein Kind«, sagte die Schwester, »legen Sie sich wieder zurück.«

Ohne ihre Haltung zu verändern, rief Fantine wieder mit ihrer rauhen Stimme und in einem befehlenden Ton:

»Warum kann er nicht kommen? Sie wissen den Grund. Sie haben eben darüber flüsternd miteinander gesprochen. Ich will es wissen.«

Hastig flüsterte die Magd der Nonne zu: »Sagen Sie ihr doch, er sei in der Stadtverordnetenversammlung.«

Schwester Simplice errötete leise; man mutete ihr zu, sie sollte lügen. Andererseits begriff sie, daß die Wahrheit ein furchtbarer Schlag für die Kranke sein müßte und bei Fantines elendem Zustand böse Folgen haben konnte. Nicht lange verweilte die Röte auf ihren Wangen. Traurig und ruhig sagte sie:

»Der Herr Bürgermeister ist verreist.«

Fantines Augen funkelten. Eine unerhörte Freude verklärte ihr vergrämtes Gesicht.

»Verreist! Er holt Cosette.«

Und sie hob die Hände zum Himmel, ihr Gesicht nahm einen verklärten Ausdruck an, ihre Lippen bewegten sich; leise betete sie.

»Schwester«, sagte sie, nachdem sie gebetet hatte, »ich will mich wieder zurücklehnen, ich will alles tun, was man von mir verlangt. Ich bin eben recht schlecht gewesen. Verzeihen Sie mir, daß ich so laut gesprochen habe, es ist nicht gut, so laut zu sprechen, das weiß ich wohl, Schwester, aber sehen Sie, ich bin sehr zufrieden jetzt. Gott ist gut, und Herr Madeleine ist auch gut, denken Sie sich nur, er ist nach Montfermeil gegangen, meine kleine Cosette abzuholen.«

Sie legte sich zurück, half der Nonne das Kissen zurechtrücken und küßte das kleine, silberne Kreuz, das sie am Halse trug und das ihr Schwester Simplice geschenkt hatte.

»Suchen Sie jetzt ruhig zu bleiben, Kind«, sagte die Schwester, »und sprechen Sie nicht.«

»Er ist heute morgen nach Paris gefahren. Er hätte eigentlich gar nicht bis Paris fahren müssen. Montfermeil liegt, bevor man in die Stadt kommt, linker Hand. Erinnern Sie sich noch, wie er gestern, als ich nach Cosette fragte, geantwortet hat: Bald. Er will mir eine Überraschung bereiten, darum ließ er mich auch diesen Brief an die Thénardiers unterzeichnen. Die können doch nichts dagegen einwenden, nicht wahr? Sie sind ja bezahlt. Die Obrigkeit duldet doch nicht, daß einer ein Kind zurückbehält, wenn er sein Geld gekriegt hat. Morgen früh, Schwester, morgen wird er schon zurück sein, morgen ist ein Festtag für mich. Ja, Montfermeil ist ein Dorf. Ich bin zu Fuß von dort herübergekommen, seinerzeit, und da schien es mir recht weit. Aber mit der Post ist es wohl eine kurze Strecke. Morgen wird er mit Cosette hier sein. Wie weit ist Montfermeil von hier?«

Die Schwester, die keine Ahnung davon hatte, antwortete: »Oh, ich glaube schon, daß er morgen hier sein kann.«

Zwischen sieben und acht Uhr kam der Arzt. Da er kein Geräusch hörte, glaubte er, Fantine schlafe, und näherte sich auf den Zehenspitzen dem Bett. Er zog den Vorhang zurück und sah sich Fantine gegenüber, die ihn mit großen, ruhigen Augen ansah.

»Nicht wahr, Herr Doktor«, sagte sie, »man wird sie doch in einem kleinen Bett hier neben mir schlafen lassen?«

Der Arzt glaubte, sie sei wieder im Delirium.

»Sehen Sie«, fuhr sie fort, »es ist Platz genug da.«

Der Arzt nahm Schwester Simplice beiseite, die ihm den Hergang erzählte.

Er billigte ihr Verhalten.

Wirklich ging es Fantine besser. Der Druck war verringert, der Puls stärker. Neues Leben beseelte diesen erschöpften Körper.

»Herr Doktor«, fragte sie, »hat die Schwester Ihnen gesagt, daß der Herr Bürgermeister mir mein Püppchen bringen will?«

Der Arzt legte ihr Schweigen auf und ordnete an, daß jede Aufregung von ihr ferngehalten werden sollte. Auch verordnete er ihr einen Aufguß von Chinarinde und, falls das Fieber in der Nacht zunähme, ein Schlafmittel. Als er ging, sagte er zu der Schwester: »Es steht besser mit der Kranken. Wenn das Glück wollte, daß der Herr Bürgermeister wirklich morgen mit dem Kind kommt, wer weiß, die Krisen nehmen oft einen erstaunlichen Ausgang, und wir Ärzte kennen Fälle, in denen eine plötzliche große Freude den Lauf einer Krankheit hemmt. Ich weiß wohl, daß dies eine organische, weit vorgeschrittene Krankheit ist, aber es gibt Geheimnisse, die sich nicht ergründen lassen. Vielleicht retten wir sie doch.«

Der Reisende kommt an und will wieder abreisen

Es war fast acht Uhr abends, als der Wagen des Bürgermeisters vor der Postherberge in Arras vorfuhr. Madeleine stieg aus, beantwortete zerstreut die Fragen der Herbergsleute, ließ sein Pferd in den Stall bringen, trat in einen Billardsaal zu ebener Erde und setzte sich.

Die Wirtin kam.

»Wünscht der Herr hier zu nächtigen? Soll gedeckt werden?«

Er schüttelte den Kopf.

»Der Stallknecht sagt, daß das Pferd des Herrn übermüdet ist.«

Jetzt brach er sein Schweigen.

»Wird das Pferd morgen früh marschfähig sein?«

»Unmöglich, mein Herr, es muß mindestens zwei Tage ruhen.«

»Ist hier das Postbüro?«

»Ja, mein Herr.«

Die Wirtin führte ihn in das Büro; er wies seinen Paß vor und erkundigte sich, ob er noch in derselben Nacht nach Montreuil sur Mer zurückfahren könnte. Der Platz neben dem Kurier war noch unbesetzt, er belegte und bezahlte ihn.

»Mein Herr«, sagte der Postbeamte, »seien Sie pünktlich um ein Uhr nachts zur Stelle.«

Dann verließ Madeleine die Gastwirtschaft und ging in die Stadt.

Er kannte Arras nicht und durchschritt aufs Geratewohl einige unbeleuchtete Straßen. Offenbar wollte er niemanden nach dem Weg fragen. Er überschritt die Grinchonbrücke und geriet in ein Wirrwarr enger Gassen, in dem er sich verirrte. Endlich, nach einigem Zögern, sprach er einen Bürger an, warf aber vorher einen scheuen Blick um sich, als ob er fürchte, ein Fremder könne seine Frage hören.