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Seit vierundzwanzig Stunden hatte er nichts gegessen, und er war zermürbt von der Fahrt in dem groben Gefährt; aber er fühlte nichts, empfand nichts.

Er näherte sich einem schwarzen Rahmen, der an der Wand hing und unter Glas einen alten, handschriftlichen Brief des Herrn Jean Nicolas Pache, Bürgermeister von Paris und Minister, offenbar irrtümlich datiert vom 9. Juni des Jahres II, enthielt. In diesem Brief übersandte Pache der Kommune die Liste der Minister und Deputierten, die in Haft gehalten wurden. Ein Zeuge, der Madeleine in diesem Augenblick beobachtet hätte, wäre ohne Zweifel zur Ansicht gekommen, daß dieser Brief ihn sehr interessierte, denn er ließ ihn nicht aus dem Auge, sondern las ihn wohl zwei- oder dreimal. Und doch begriff er nichts von seinem Inhalt.

In Gedanken versunken, wandte er sich um, und sein Blick fiel auf die Kupferklinke der Tür zum Verhandlungssaal. Er hatte sie fast vergessen. Sein Blick blieb an der Klinke hängen und wurde starr; Bestürzung spiegelte sich in seinen Mienen. Schweiß perlte von seiner Stirn und rieselte über seine Schläfen herab.

Mit einer entschlossenen Gebärde wandte er sich ab; es war, als ob er sagen wollte: Großer Gott, muß ich denn? Er sah vor sich die Tür, durch die er eingetreten war, ging mit festen Schritten auf sie zu, öffnete sie und trat hinaus. Schon war er im Korridor, einem langen, schmalen Korridor mit Stufen und Schaltern. Er atmete auf und lauschte. Nichts war zu hören. Da begann er zu laufen, als ob man ihn verfolge.

Er bog um mehrere Ecken, endlich blieb er wieder stehen und taumelte, so daß er sich an die Wand lehnen mußte. Der Stein war kalt, eisig lag der Schweiß auf seiner Stirn. Er schauderte.

So verging geraume Zeit. Endlich senkte er den Kopf, seufzte qualvoll auf, ließ die Arme herabfallen und ging langsam zurück. Es war, als ob jemand ihn eingeholt hätte und zurückführe.

Wieder gelangte er in das Beratungszimmer. Sein Blick fiel auf die Klinke. Sie glitzerte wie ein furchtbarer Stern. Er sah sie an, wie das Schaf in das Auge des Tigers blickt.

Er konnte den Blick nicht davon abwenden.

Schritt für Schritt näherte er sich der Tür.

Wenn er gehorcht hätte, wäre wohl ein undeutliches Gemurmel aus dem Nebenraum an sein Ohr gedrungen; aber er horchte nicht.

Fast ohne es selbst zu bemerken, stand er plötzlich vor der Tür und griff krampfhaft nach der Klinke. Er öffnete und befand sich im Verhandlungssaal.

Mechanisch schloß er die Tür hinter sich, blieb stehen und hielt Umschau.

Er befand sich in einem geräumigen, schlechterleuchteten Saal, in dem es bald lärmend zuging, bald wieder still war; hier wickelte sich ein Kriminalprozeß mit seiner ganzen albernen und düsteren Gewichtigkeit vor den Augen der Menge ab.

Auf der einen Seite des Saales, auf der auch er sich befand, sah er Richter mit zerstreuten Mienen in abgetragenen Talaren, die an ihren Nägeln kauten und mit den Augenlidern klappten; auf der anderen Seite eine Menge in Lumpen; Advokaten in allen möglichen Haltungen; Justizsoldaten mit biederen, harten Gesichtern; alte, schmutzige Täfelung, ein unsauberer Plafond, Tische, die mit vergilbtem, ehemals grünem Serge überzogen waren, Türen mit schwarzen Fingerabdrücken. An Nägeln hängende Lampen, die mehr Qualm als Licht verbreiteten; auf den Tischen Kerzen in Kupferleuchtern. Finsternis, Häßlichkeit, Traurigkeit.

Niemand achtete seiner. Alle Blicke waren auf einen Punkt gerichtet, eine Holzbank, die an eine kleine Tür gelehnt war, linker Hand vom Platz des Präsidenten. Auf dieser Bank saß ein Mann zwischen zwei Gendarmen.

Dieser Mann war er.

Madeleine suchte ihn nicht, er sah ihn sofort. Wie von selbst richteten sich seine Blicke auf ihn, als ob er im voraus gewußt hätte, wo er war.

Er glaubte sich selbst zu sehen, gealtert, nicht ganz mit demselben Gesicht, aber doch ähnlich in der Haltung, mit struppigen Haaren, mit diesem wilden, unsteten Blick, in dieser selben groben Joppe – er, wie er seinerzeit nach Digne gekommen war, Haß im Herzen, sorgfältig diesen furchtbaren Schatz häßlicher Gedanken in seiner Seele verbergend, die er in neunzehn Jahren der Kerkerhaft gesammelt hatte.

Dieser Mensch schien mindestens sechzig Jahre alt zu sein. Es war etwas Rohes, Blödes, Verschrecktes in seinem Wesen.

Als die Türe ging, war man zur Seite getreten, um Madeleine Platz zu machen; der Präsident hatte den Kopf gewandt, hatte erraten, daß der Eintretende der Bürgermeister von Montreuil sur Mer sein mußte, und hatte gegrüßt. Der Staatsanwalt, der Madeleine in Montreuil sur Mer kennengelernt hatte, wohin ihn ministerielle Aufträge geführt hatten, erkannte ihn und grüßte gleichfalls. Madeleine bemerkte es kaum.

Richter, Schreiber, Gendarmen, eine Menge grausam neugieriger Zuschauer, das hatte er alles schon einmal gesehen, damals, vor siebenundzwanzig Jahren. Jetzt fand er diese grausigen Dinge wieder; sie erneuerten sich, sie existierten noch immer. Nicht sein überreiztes Gedächtnis hatte ihm das vorgespiegelt, dies waren wirkliche Gendarmen und wirkliche Richter, eine wirkliche Menge – Menschen von Fleisch und Blut. Jetzt erwachte die Vergangenheit rings um ihn, Gespenster tauchten wieder auf, die grausigen Erinnerungen seiner Vergangenheit erstanden zu neuer, furchtbarer Wirklichkeit.

Dies alles war ein gähnender Abgrund vor ihm. Er schloß die Augen, etwas in einer Seele sagte ihm: Nie wieder! Niemals!

Und durch eine tragische Fügung des Schicksals, das ihn zum Wahnsinn treiben wollte, war er selbst es, der da vor ihm stand, war er es – und dieser Mann, über den man zu Gericht saß, wurde von allen Jean Valjean genannt.

Alles war wieder auferstanden, dieselbe Mitternachtsstunde, fast dieselben Gesichter der Richter, der Justizsoldaten und Zuschauer. Nur hing jetzt über dem Kopf des Präsidenten ein Kruzifix, das war damals, als er verurteilt worden war, nicht so gewesen. Damals hatte man in Abwesenheit Gottes Recht gesprochen.

Ein Stuhl stand hinter ihm, er sank darauf, von dem Gedanken gepeinigt, man könne ihn sehen. Er verbarg sich hinter einem Stapel von Kartons, die auf dem Richtertisch lagen. Jetzt konnte er sehen, ohne gesehen zu werden. Allmählich gewann er Fassung. Er erlangte wieder das Gefühl für die Wirklichkeit. Er war ruhig genug, um zuhören zu können.

Herr Bamatabois befand sich unter den Geschworenen.

Jetzt suchte Madeleine Javert, aber er sah ihn nicht, vielleicht, weil die Zeugenbank durch den Tisch des Schreibers verdeckt war. Auch war der Saal, wie wir schon sagten, spärlich beleuchtet. Als Madeleine eintrat, hatte der Anwalt sein Plädoyer gerade beendet. Jetzt schickte sich der Staatsanwalt an, zu antworten. Es war eine ebenso energische wie gezierte Rede, die er hielt, die übliche Rede eines Staatsanwalts.

Zunächst beglückwünschte er den Verteidiger zu der Aufrichtigkeit, mit der er gesprochen, und machte sich die Zugeständnisse, die er aus der Rede des Advokaten herausgehört, zunutze. Was der Advokat des Beschuldigten einbekannt hatte, galt ihm als Geständnis des Angeklagten selbst. Dieser Anwalt schien einräumen zu wollen, daß der Angeklagte Jean Valjean sei. Das stellte der Staatsanwalt fest. Dieser Mensch war also Jean Valjean. In diesem Punkte war die Anklage durchgedrungen, und man brauchte nicht weiter darüber zu sprechen. Jetzt ging er in einer geschickten Abschweifung auf die seelischen Ursachen und Quellen der Kriminalität zurück, schleuderte den Donner der Verdammnis gegen die romantische Schule der Literatur, die damals noch jung war und von den Kritikern der »Oriflamme« und der »Quotidienne« als satanistische Schule verdammt wurde, wies – nicht ohne alle Wahrscheinlichkeit – auf den Einfluß hin, den diese perverse Literatur auf Champmathieu ausgeübt haben mußte, oder vielmehr auf Jean Valjean. Nachdem er alles verbraucht hatte, was sich hierüber sagen läßt, kehrte er wieder zu Jean Valjean zurück. Wer war dieser Jean Valjean? Ausführliche Beschreibung des Mannes. Ein Ungeheuer, ausgespien … usw. usw. Den Urtext aller Beschreibungen dieser Art findet man in dem Monolog des Theramenes, der zwar auf der Bühne nicht viel taugt, aber der judiziellen Beredsamkeit große Dienste geleistet hat und noch täglich leistet. Sobald diese Beschreibung beendigt war, rief der Staatsanwalt in einer oratorischen Wendung, die ganz danach angetan war, in der nächsten Nummer des »Journal de la Préfecture« rühmend erwähnt zu werden: Und ein solcher Mensch usw. usw., Vagabund, Bettler, ohne Existenzmittel, usw. usw., durch sein Vorleben allein schon befähigt zu allen Schandtaten und durch einen Aufenthalt im Bagno kaum gebessert, usw. usw., ein solcher Mensch, in flagranti bei einem Diebstahl ertappt, nur wenige Schritte entfernt von der Mauer, die er überstiegen, den gestohlenen Gegenstand noch in Händen, ein solcher Mensch leugnet sein Vergehen, den Diebstahl, den Einbruch, leugnet alles, sogar seinen Namen, ja sogar seine Identität.