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»Von hundert anderen Beweisen ganz zu schweigen«, fuhr er fort, »auf die wir hier nicht zurückkommen wollen, wird er von vier Zeugen wiedererkannt, von Javert, dem untadeligen Polizeiinspektor Javert, und von drei ehemaligen Genossen seiner Schande, den Sträflingen Brevet, Chenildieu, Cochepaille. Was wagt er dieser niederschmetternden Einstimmigkeit entgegenzustellen? Er leugnet! Welche Verstocktheit! Sie werden Gerechtigkeit üben, meine Herren Geschworenen, usw. usw. …«

Während der Staatsanwalt sprach, horchte der Angeklagte mit offenem Munde, mit einem Staunen, das an Bewunderung streifte. Er war offenbar überrascht, daß man so schön sprechen konnte. Manchmal, an besonders energischen Stellen der Rede, wenn die überströmende Beredsamkeit wie ein Orkan über den Angeklagten hereinbrach und Epitheta durch die Luft wirbelte, schüttelte er leise den Kopf zum Zeichen seiner traurigen, stummen Beschwerde. Zwei- oder dreimal hörten die Zuschauer, die ihm am nächsten saßen, wie er leise sagte: »Das kommt davon, daß man Herrn Baloup nicht gefragt hat.« Der Staatsanwalt machte die Geschworenen auf dieses alberne, offenbar berechnete Gebaren aufmerksam, das beileibe nicht Dummheit, sondern Geschicklichkeit, Schlauheit, Gewandtheit und Betrug beweise, und wies darauf hin, daß solches Verhalten die tiefe Verderbtheit des Angeklagten neuerlich ans Tageslicht bringe. Er beantragte eine strenge Bestrafung.

Der Verteidiger erhob sich, begann mit einigen Komplimenten über die bewunderungswürdige Beredsamkeit des Staatsanwalts, replizierte, so gut er konnte, gegen einige Argumente, fand aber keine starken Worte; offenbar hatte er das Gefühl eines Mannes, dem der Boden unter den Füßen weggezogen wird.

Alles leugnen

Jetzt waren die Plädoyers zu Ende. Der Präsident ließ den Angeklagten aufstehen und richtete an ihn die übliche Frage:

»Haben Sie Ihrer Verteidigung etwas hinzuzufügen?«

Der Mann stand da, drehte sein abscheuliches Hütchen zwischen den Händen und schien nichts zu begreifen.

Der Präsident wiederholte seine Frage.

Diesmal verstand ihn der Angeklagte. Er machte eine Bewegung, als ob er aus dem Schlaf aufwache, ließ seinen Blick ringsum schweifen, sah das Publikum, die Gendarmen, seinen Advokaten, die Geschworenen, den Gerichtshof an, legte seine ungeheure Faust auf den Bord der Barriere vor seiner Bank und begann plötzlich, mit einem Blick auf den Staatsanwalt, zu sprechen. Es war wie der Ausbruch eines Vulkans. So unzusammenhängend brachen die Worte aus seinem Mund hervor, daß sie ins Gedränge kamen und alle gleichzeitig über seine Lippen zu gleiten versuchten.

»Ich habe folgendes zu sagen«, begann er. »Ich war Zimmermann in Paris, nämlich bei Herrn Baloup. Es ist ein harter Beruf. Als Zimmermann arbeitet man immer im Freien, im Hof, oder bei guten Meistern in irgendeinem Schuppen, aber niemals in geschlossenen Werkstätten, denn diese Arbeit braucht Raum, verstehen Sie. Im Winter ist es so kalt, daß man mit den Armen um sich schlagen muß, um ein wenig Wärme zu bekommen; aber die Meister können das nicht leiden, denn sie sagen, es ist verlorene Zeit. Eisen in der Hand zu halten, wenn das Pflaster friert, ist hart. Das verbraucht einen Menschen rasch. In diesem Beruf wird man schnell alt. Mit vierzig ist einer fertig. Ich habe es bis dreiundfünfzig gebracht, das war eine große Plage. Und die Arbeiter sind auch nicht gut. Wenn einer nicht mehr ganz jung ist, dann nennen sie ihn alter Trottel und alter Esel. Ich habe nur dreißig Sous am Tag bekommen, den Meistern war es recht, daß sie sich auf mein Alter ausreden konnten. Und dazu hatte ich noch meine Tochter, die Wäscherin. Sie verdiente natürlich auch ein wenig. So zusammen ging’s gerade. Sie hatte es auch nicht leicht. Den ganzen Tag mit dem halben Leib im Wasser, ob es regnet oder schneit, und der Wind fährt einem ins Gesicht; sogar wenn es friert, immer dasselbe, immer waschen! Manche Leute haben nicht viel Wäsche, und denen ist es immer besonders eilig! Wäscht man es nicht gleich, ist man den Kunden los. Die Bretter sind schlecht zusammengefügt, überall träufelt es durch. Die ganzen Kleider werden durch und durch naß. Das geht durch die Haut. Sie hat auch bei den Enfants-Rouges gearbeitet, dort kommt das Wasser aus Röhren, man muß nicht selber im Wasser stehen. Vor sich hat man das fließende Wasser, hinter sich den Bottich zum Spülen. Alles im geschlossenen Raum – da hat man es nicht so kalt. Aber ein Dampf ist dort, schrecklich, und das geht einem in die Augen. Um sieben Uhr abends kam sie nach Hause, und gleich darauf husch ins Bett! So müd war sie. Ihr Mann prügelte sie. Sie ist schon tot. Wir sind nicht besonders glücklich gewesen. Sie war ein braves Mädel, ging nie auf den Ball, war immer ruhig. Ich erinnere mich an einen Karnevalsabend, da legte sie sich um acht Uhr ins Bett, jawohl. Das ist die reinste Wahrheit. Sie brauchen nur zu fragen. Wenden Sie sich an Herrn Baloup. Fragen Sie den. Ansonsten weiß ich nicht, was man von mir will.«

Er schwieg. Seine Rede hatte er laut, rasch, heiser und rauh gehalten mit einer naiven, wilden Gereiztheit. Einmal hatte er sich unterbrochen, um jemandem in der Menge zuzunicken. Die Behauptungen kamen ruckweise aus ihm heraus, und er bekräftigte sie mit Gebärden, als ob er Holz hackte. Als er zu Ende war, begannen die Zuhörer schallend zu lachen. Er sah um sich, und als er alle lachen sah, begriff er nicht und begann auch zu lachen.

Es war unheimlich.

Der Präsident, ein aufmerksamer und wohlwollender Mensch, begann zu sprechen. Er brachte den Geschworenen in Erinnerung, daß Herr Baloup, der ehemalige Brotherr des Angeklagten – wenn man ihm glauben dürfe –, daß also Herr Baloup vergeblich geladen worden sei. Er hatte Bankrott gemacht und war nicht mehr aufzufinden. Dann wandte sich der Präsident an den Angeklagten, forderte ihn auf, aufmerksam zuzuhören, und sagte:

»Sie befinden sich in einer Lage, in der man alles überlegen muß. Schwerer Verdacht lastet auf Ihnen, das Schlimmste steht zu befürchten. In Ihrem Interesse fordere ich Sie noch einmal auf, erklären Sie sich über diese zwei Punkte: erstens, haben Sie, ja oder nein, die Mauer des Gartens des Herrn Pierron überstiegen, einen Ast abgebrochen und die Äpfel gestohlen, also Einbruchsdiebstahl begangen? Zweitens, ja oder nein, sind Sie der entlassene Galeerensträfling Jean Valjean?«

Der Angeklagte schüttelte den Kopf wie einer, der wohl versteht, was er antworten soll, tat auch den Mund auf, wandte sich dem Präsidenten zu und sagte:

»Also erst mal …«

Dann sah er zunächst seinen Hut, dann den Plafond an und versank in Schweigen.

»Angeklagter«, rief der Staatsanwalt streng, »passen Sie auf. Sie antworten auf nichts, was man Sie fragt. Ihre Verwirrung allein verurteilt Sie. Es ist klar, daß Sie nicht Champmathieu heißen, sondern der Galeerensträfling Jean Valjean sind, der sich zunächst unter dem Namen Jean Mathieu zu verbergen suchte, dem Namen seiner Mutter, der dann in der Auvergne war, ebenso in Faverolles – und dort Baumscherer. Es ist vollkommen klar, daß Sie bei einem Einbruchsdiebstahl reife Äpfel aus dem Garten des Herrn Pierron gestohlen haben. Die Herren Geschworenen werden sich danach zu richten wissen.«