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Alle, die diese Stimme hörten, glaubten zu Eis zu erstarren, so beklagenswert und furchtbar klang sie. Alle Augen wandten sich nach der Stelle, von wo sie erklungen war. Da stand ein Mann, der unter den bevorzugten Zuhörern Platz gefunden hatte und jetzt langsam vordrang. Der Präsident, der Staatsanwalt, Herr Bamatabois und zwanzig andere, die ihn erkannten, schrien einstimmig auf:

»Herr Madeleine!«

Champmathieu wundert sich noch mehr

Er war es in der Tat. Die Lampe des Gerichtsschreibers warf ihr volles Licht auf ihn. Er hielt seinen Hut in der Hand, seine Kleider waren in Ordnung, sein Ridingcoat war sorgfältig zugeknöpft. Er war sehr blaß und zitterte leicht. Seine Haare, die grau gewesen waren, als er nach Arras kam, waren jetzt weiß.

Alle sahen nach ihm. Die Aufregung war unbeschreiblich. Einen Augenblick lang war etwas wie ein Zögern in der Menge. Die Stimme hatte so grell geklungen, der Mann aber sah so ruhig aus, daß man zunächst nicht begriff. Man fragte sich, wer geschrien habe. Man wollte nicht glauben, daß ein Mann, der so ruhig aussah, so furchtbar aufschreien könne.

Aber diese Unentschiedenheit dauerte nur Sekunden. Bevor der Präsident oder der Staatsanwalt ein Wort sagen konnten, war der Mann, den jetzt noch alle Herr Madeleine nannten, zu den Zeugen Cochepaille, Brevet und Chenildieu getreten.

»Erkennt ihr mich nicht?«

Die drei blieben betroffen stumm und schüttelten die Köpfe. Der verschüchterte Cochepaille grüßte militärisch. Herr Madeleine wandte sich zu den Geschworenen und zum Gerichtshof und sagte gelassen:

»Meine Herren Geschworenen, lassen Sie den Angeklagten frei, Herr Präsident, lassen Sie mich verhaften. Ich bin der Mann, den Sie suchen, ich bin Jean Valjean.«

Niemand wagte zu atmen. Der ersten Regung des Staunens war Grabesstille gefolgt. Man fühlte im Saal etwas wie jenen religiösen Schauer, den das Große zu erregen vermag.

Im Gesicht des Präsidenten waren nur Sympathie und Trauer zu erkennen. Er hatte dem Staatsanwalt einen Wink gegeben und sprach leise mit seinen Beisitzern. Dann wandte er sich an das Publikum und fragte mit einer Betonung, die von allen verstanden wurde:

»Ist vielleicht ein Arzt im Saal?«

»Ich danke Ihnen«, sagte Madeleine, »aber ich bin nicht verrückt. Sie sollen es gleich sehen. Sie waren eben im Begriff, einen großen Irrtum zu begehen. Lassen Sie diesen Mann frei. Ich tue meine Pflicht, ich bin der unglückliche Verurteilte. Ich bin der einzige, der hier klar sieht, und ich sage Ihnen die Wahrheit. Was ich in diesem Augenblick tue, sieht Gott da droben, und das genügt. Sie können mich verhaften, denn ich bin ja hier. Ich habe alles getan, was ich tun konnte. Ich habe mich unter einem falschen Namen verborgen, ich bin reich geworden, Bürgermeister … wollte wieder zu den anständigen Leuten gehören. Es scheint, daß das nicht geht. Nun, ich kann Ihnen das nicht alles sagen, ich will Ihnen auch nicht mein Leben erzählen, beizeiten kommt auch das ans Licht. Ich habe wirklich jenen Bischof bestohlen, es ist wahr. Man hat nicht unrecht, wenn man sagt, daß Jean Valjean ebenso schlecht wie unglücklich war. Vielleicht lastet nicht alle Schuld auf ihm. Hören Sie mich an, meine Herren Richter! Ein Mann, der so tief gesunken ist wie ich, darf wohl die Vorsehung nicht belehren, ihm steht es nicht an, der menschlichen Gesellschaft Ratschläge zu erteilen, aber sehen Sie, die Schande, der ich zu entkommen suchte, ist eine recht schädliche Sache. Die Galeeren bringen den Galeerensträfling hervor. Bedenken Sie das, wenn Sie wollen. Bevor ich dahin kam, war ich ein armer Bauer, sehr wenig intelligent, eine Art Idiot, dort habe ich mich geändert. Ich war blöde, ich wurde schlecht, aber verzeihen Sie, Sie können das nicht verstehen, was ich da sage. Ich habe nichts hinzuzufügen. Verhaften Sie mich. Mein Gott, Herr Staatsanwalt, Sie sagen, Madeleine ist verrückt geworden, Sie glauben mir nicht. Das ist sehr traurig. Verurteilen Sie wenigstens diesen Menschen hier nicht. Diese drei erkennen mich nicht. Wäre doch Javert hier, er würde mich erkennen.«

Jetzt wandte er sich an die drei Sträflinge.

»Ich erkenne Sie, Brevet, erinnern Sie sich …?« Zögernd fuhr er fort: »Erinnerst du dich an die Hosenträger aus Trikot mit dem Damenbrettmuster, die du im Bagno hattest?«

Brevet war verblüfft und sah ihn von Kopf bis zu den Füßen erschrocken an. Er aber fuhr fort: »Chenildieu, Ohnegott, du hast auf der rechten Schulter eine Brandwunde, weil du dich einmal selbst in die Kohlenpfanne gelegt hast, um die drei Buchstaben T. F. P. auszubrennen. Sag, ist das wahr?«

»Allerdings«, erwiderte Chenildieu.

»Und du, Cochepaille, du hast gleich neben der Schlagader am linken Arm in blauen Buchstaben das Datum der Landung Napoléons in Cannes, den 1. März 1815, eingebrannt. Schieb deinen Ärmel zurück!«

Cochepaille schob den Ärmel zurück, und alle Blicke richteten sich auf den nackten Arm. Ein Gendarm näherte eine Lampe, das Datum wurde sichtbar.

Jetzt wandte sich der Unselige mit einem Lächeln, das allen ins Herz schnitt, an die Richter. Es war ein Lächeln des Triumphes und der Verzweiflung zugleich:

»Sie sehen wohl, ich bin Jean Valjean.«

Und jetzt waren in diesem Saal weder Richter noch Ankläger, noch Gendarmen: nur erstaunte Augen und bewegte Herzen. Keiner gedachte der Rolle, die er hier zu spielen hatte. Der Staatsanwalt hatte vergessen, daß es seine Pflicht war, Sühne zu heischen, der Präsident, den Vorsitz zu führen, der Verteidiger, zu verteidigen. Seltsam, niemand fragte, keine Behörde griff ein. Alle waren wie betäubt.

Niemand konnte mehr bezweifeln, daß man Jean Valjean vor sich hatte. Plötzlich war Licht in diese ganze Angelegenheit gekommen, die eben noch im tiefsten Dunkel gelegen hatte.

»Ich will die Verhandlung nicht weiter stören«, sagte Jean Valjean, »da niemand mich verhaftet, gehe ich. Ich habe noch Angelegenheiten zu erledigen. Der Herr Staatsanwalt weiß, wer ich bin und wo er mich findet; er wird mich verhaften lassen, wenn es ihm beliebt.«

Er ging auf die Türe zu. Niemand erhob seine Stimme, kein Arm streckte sich aus, ihn aufzuhalten. Alle wichen zurück. Langsam schritt er durch die Menge. Es wurde nie festgestellt, wer ihm die Türe geöffnet hat, aber Tatsache ist, daß die Türe offen war, als er zu ihr kam.

Er wandte sich noch einmal um und sagte:

»Sie alle hier, Sie finden wohl, daß ich Mitleid verdiene, nicht wahr? Mein Gott, wenn ich mir vorstelle, was ich fast getan hätte, so erscheint mir mein jetziges Leben beneidenswert.«

Er ging hinaus, und die Türe wurde geschlossen, wie sie geöffnet worden war; keine Stunde verging, da war Champmathieu von jeglicher Anklage freigesprochen; er wurde unverzüglich in Freiheit gesetzt. Tief erstaunt machte er sich davon, überzeugt, alle Menschen wären verrückt.

Achtes Buch

Der Gegenstoß

Fantine glücklich

Der Morgen dämmerte. Fantine hatte eine schlaflose Fiebernacht verbracht, umgaukelt von beseligenden Bildern; gegen Morgen schlief sie ein. Schwester Simplice, die bei ihr gewacht hatte, machte sich diese Gelegenheit zunutze, um ihr einen neuen Chinarindenaufguß zu bereiten. Die gute Schwester befand sich seit Augenblicken im Laboratorium des Spitals, über ihre Phiolen und Fläschchen gebeugt, weil sie im schwachen Licht der Morgendämmerung die Gegenstände nur schwer zu unterscheiden vermochte. Plötzlich wandte sie sich um und stieß einen leisen Schrei aus. Madeleine stand vor ihr. Er war still eingetreten.

»Sie sind es, Herr Bürgermeister!«

Leise fragte er:

»Wie geht es der armen Frau?«

»Nicht schlecht im Augenblick. Aber wir waren nicht wenig besorgt.«

Sie erzählte ihm, was vorgefallen war. Die Schwester wagte nicht zu fragen, ob er in Montfermeil gewesen sei, aber sie sah wohl, daß er nicht von dort kam.