Zumal in den Salons wurde so gesprochen. Eine alte Dame, eine Abonnentin des »Drapeau blanc«, äußerte folgende Bemerkung, deren ganze Tiefe nicht abzuschätzen ist:
»Das ist mir ganz lieb. Es mag für diese Bonapartisten eine Lehre sein!«
So verschwand das Phantom, das sich Madeleine genannt hatte, aus Montreuil sur Mer. Nur drei oder vier Leute in der ganzen Stadt bewahrten ihm ein treues Andenken. Zu diesen zählte die alte Portiersfrau, die ihm gedient hatte.
Am Abend desselben Tages saß diese wackere Alte in ihrer Loge, noch ganz bestürzt und traurigen Gedanken nachhängend. Die Fabrik war den ganzen Tag über geschlossen gewesen, das Haupttor verriegelt, die Straße leer. Im Hause waren nur noch die beiden Nonnen, Perpetua und Simplicia, die bei der toten Fantine wachten.
Zur Stunde, da Herr Madeleine nach Hause zu kommen pflegte, stand die brave Portiersfrau mechanisch auf, nahm den Schlüssel zu seinem Zimmer aus einer Lade und stellte den Leuchter bereit, als ob sie ihn erwarte. Dann setzte sie sich wieder und versank in Nachdenken. Sie hatte alles das ganz unbewußt getan.
Erst zwei Stunden später erwachte sie aus ihrem Sinnen. Mein Gott, dachte sie, wie kommt es nur, daß ich den Schlüssel bereitgelegt habe?
In diesem Augenblick wurde das Glasfenster aufgedrückt, eine Hand griff herein, nahm den Schlüssel und den Leuchter und entzündete die Kerze an dem Licht in der Loge.
Die Portiersfrau unterdrückte einen Schrei.
Sie kannte diese Hand, diesen Arm, diesen Rockärmel. Es war Madeleine. Sekunden vergingen, bevor sie sprechen konnte, denn sie war, wie sie später selbst erzählte, ganz außer sich.
»Mein Gott, Herr Bürgermeister«, sagte sie endlich, »ich dachte …«
Sie hielt inne, denn das Ende des Satzes, der so respektvoll begonnen wurde, wäre peinlich gewesen. Jean Valjean war für sie noch immer der Bürgermeister.
Er beendete ihren Gedanken.
»Sie dachten, ich wäre im Gefängnis. Ich war es. Ich habe das Fenstergitter ausgebrochen und bin vom Dach herabgesprungen. So, jetzt bin ich da. Ich gehe in mein Zimmer. Holen Sie mir Schwester Simplice, sie ist gewiß noch bei der Leiche dieser armen Frau.«
Eilig gehorchte die Alte.
Er gab ihr keine weitere Anweisung. Er wußte gewiß, daß sie besser auf ihn achten würde als er selbst.
Er stieg inzwischen die Treppe hinauf, die in sein Zimmer führte. Oben angelangt, ließ er seinen Leuchter auf der höchsten Stufe stehen, öffnete geräuschlos die Tür und trat ein. Tastend schloß er die Fensterläden, dann holte er seinen Leuchter. Diese Vorsicht war nötig, denn sein Fenster war von der Straße aus zu sehen.
Es wurde an die Tür geklopft.
»Herein!« rief er.
Es war Schwester Simplice. Sie war bleich, hatte gerötete Augen, und die Kerze in ihrer Hand zitterte. Die Erschütterungen des Tages hatten diese Nonne wieder zur Frau gemacht.
Jean Valjean schrieb einige Zeilen auf ein Stück Papier und reichte es der Nonne: »Schwester, überbringen Sie dies dem Herrn Pfarrer.«
Das Blatt war nicht zusammengefaltet. Sie warf einen Blick darauf.
»Sie können es lesen«, sagte er.
Und sie las folgendes:
»Ich bitte den Herrn Pfarrer, über alles, was ich hier zurücklasse, zu wachen. Es mögen aus dem Ertrag des Verkaufs die Kosten meines Prozesses und die Beerdigung der Frau bestritten werden, die heute gestorben ist. Der Rest komme den Armen zu.«
Die Schwester wollte sprechen, aber sie konnte nur einige unartikulierte Laute hervorbringen. Endlich sagte sie:
»Wünschen der Herr Bürgermeister noch einmal diese arme Tote zu sehen?«
»Nein, ich werde verfolgt, man könnte mich dort verhaften. Es würde ihre Ruhe stören.«
Kaum hatte er gesprochen, als ein lautes Geräusch auf der Treppe hörbar wurde. Von unten erscholl die Stimme der Portiersfrau, die gellend rief:
»Guter Herr, ich schwöre Ihnen bei Gott, daß den ganzen Tag und Abend über niemand hierhergekommen ist! Ich habe die Türe nicht aus dem Auge gelassen.«
»Es ist aber Licht im Zimmer«, antwortete eine Männerstimme.
Es war die Stimme Javerts.
Die Tür war so im Zimmer angebracht, daß sie, geöffnet, die rechte Ecke verdeckte. Jean Valjean trat in diese Ecke. Schwester Simplice kniete an dem Tisch nieder.
Die Tür wurde aufgerissen, Javert trat ein. Man hörte das Flüstern von Männern und die heftige Einrede der Portiersfrau im Korridor. Die Nonne blickte nicht auf. Sie betete.
Javert sah die Schwester und blieb betroffen stehen. Man erinnert sich, daß sein tiefster Wesenszug, das Element, in dem er atmete, die Verehrung jeglicher Autorität war. Und die Autorität der Kirche war für ihn die höchste; er war religiös – oberflächlich, aber korrekt, hierin wie in allen anderen Punkten. In seinen Augen war ein Priester ein Geist, der nicht irren konnte, eine Nonne ein Geschöpf, das der Sünde unfähig ist.
Als er die Schwester gewahrte, war seine erste Regung, sich zurückzuziehen. Aber sein Pflichtgefühl wurde wach, trieb ihn gebieterisch nach der anderen Richtung. Wenigstens eine Frage wollte er wagen.
Das war jene Schwester Simplice, die nie in ihrem Leben gelogen hatte. Javert wußte es und zollte dieser Tugend seine besondere Verehrung.
»Schwester«, sagte er, »sind Sie allein?«
Es war ein schrecklicher Augenblick. Die arme Portiersfrau glaubte ohnmächtig zu werden.
Die Schwester blickte auf und antwortete:
»Ja.«
»Verzeihen Sie, Schwester, wenn ich weiterfrage. Ich tue nur meine Pflicht. Haben Sie heute abend nicht einen Mann hier gesehen, einen Entsprungenen, den wir suchen, einen gewissen Jean Valjean?«
»Nein«, antwortete die Schwester.
Sie log. Sie log zweimal, Schlag auf Schlag, ohne zu zögern.
»Verzeihung«, sagte Javert und zog sich mit einer tiefen Verneigung zurück.
Eine Stunde später wanderte ein Mann mit raschen Schritten durch die Nacht, von Montreuil sur Mer nach Paris; es war Jean Valjean. Nach der Zeugenaussage von zwei oder drei Fuhrleuten, die ihm begegnet waren, trug er ein Felleisen und war mit einem Kittel bekleidet. Woher er ihn hatte? Man hat es nie erfahren.
Und noch ein Wort über Fantine.
Der Pfarrer glaubte richtig zu handeln (und vielleicht tat er es auch), indem er von Jean Valjeans Nachlaß soviel wie möglich für die Armen sicherte. Und alles in allem, worum ging es? Ein Zuchthäusler, eine öffentliche Dirne …
Darum vereinfachte er die Beerdigung Fantines, beschränkte sie auf das unvermeidlich Notwendigste und bestimmte ihr einen Platz im Massengrab.
Fantine wurde also in einem Winkel des Friedhofs, für den keine Pacht verlangt wird, der allen und niemand gehört, begraben. Glücklicherweise weiß Gott, wo er seine Seelen zu finden hat.
Zweiter Teil
Cosette
Erstes Buch
Der Kreuzer »Orion«
Nr. 24 601 wird Nr. 9 430
Jean Valjean war wieder gefangen worden.
Man wird uns Dank wissen, wenn wir die peinlichen Einzelheiten dieses Vorfalls nur flüchtig streifen. Darum beschränken wir uns darauf, zwei Zeitungsnotizen wiederzugeben.
Sie sind ein wenig summarisch gehalten. Aber man möge bedenken, daß es damals noch keine »Gazette des Tribunaux« gab.
Die erste Notiz entnehmen wir dem »Drapeau blanc«. Sie ist datiert vom 25. Juli 1823.