Als Boulatruelle sich eines Morgens auf seinen Arbeitsplatz begeben hatte, war er zu seiner Verwunderung an einer entlegenen Stelle, im Gestrüpp, auf eine Schaufel und eine Hacke gestoßen. Es sah ganz so aus, als ob dieses Gerät dort versteckt worden sei. Doch hatte er geglaubt, es gehöre vielleicht Vater Six-Foures, dem Wasserträger, und hatte sich darüber keine Gedanken gemacht. Am Abend desselben Tages aber hatte er, hinter einem Baume stehend – und ohne selbst gesehen zu werden –, einen Menschen bemerkt, der nicht aus dem Dorfe war, den er, Boulatruelle, aber recht gut kannte, wie Thénardier behauptete, also ein Kamerad aus dem Bagno. Dieser Mann sei in das dichteste Dickicht des Waldes eingedrungen. Boulatruelle wollte um keinen Preis den Namen nennen. Dieser Mann trug irgend etwas Viereckiges, vielleicht eine große Schachtel oder eine kleine Truhe. Jetzt war Boulatruelle verwundert gewesen. Doch kam ihm erst nach sieben oder acht Minuten der Gedanke, er solle dem »Betreffenden« nachgehen. Es war zu spät, der war schon verschwunden, und als Nacht war, konnte Boulatruelle ihn nicht mehr finden. Er beschloß also, am Waldrand zu warten. Der Mond schien. Zwei oder drei Stunden später sah Boulatruelle seinen Mann wieder aus dem Wald kommen, diesmal ohne die kleine Truhe, aber mit Spaten und Hacke. Boulatruelle war gar nicht auf den Einfall gekommen, den Mann anzureden, denn seiner Behauptung nach war dieser wohl dreimal stärker als er und überdies mit einer Hacke bewaffnet; sobald er ihn erkannte oder sich von ihm erkannt wußte, würde er gewiß zuschlagen. Man kann sagen: Rührendes Gefühl des alten Kameraden, der seinen Freund nach langer Zeit wiedersieht. Nun, Hacke und Schaufel waren für Boulatruelle ein Fingerzeig. Schon am nächsten Morgen drang er selbst in das Gestrüpp ein, und da er weder Hacke noch Schaufel wiederfand, glaubte er, an diesem Platze sei wohl etwas vergraben worden. Nun war der Koffer zu klein gewesen, um einen Leichnam zu enthalten. Demnach war er mit Geld gefüllt. Darum hatte Boulatruelle sich auf die Suche gemacht. Er hatte den ganzen Wald durchgewühlt, aber vergeblich. Er hatte nichts gefunden.
Die Kette bricht nicht auf den Hammerschlag
Gegen Ende Oktober des Jahres 1823 sahen die Einwohner von Toulon nach einem schweren Sturm den Kreuzer »Orion« in ihren Hafen einlaufen, der später in Brest als Schulschiff verwendet wurde, damals aber noch zum Mittelmeergeschwader zählte.
Die Einfahrt eines Kriegsschiffs in einen Hafen ruft immer eine Menge auf die Quais. Dieser Anblick hat stets etwas Großes, und die Menge liebt das Große.
Nun, der »Orion« war seit langer Zeit krank gewesen. Während langer Fahrten hatten sich ganze Muschelbänke um seinen Kiel gelagert, so daß seine Geschwindigkeit wohl auf die Hälfte ihres ursprünglichen Standes herabgesunken war. Darum hatte man ihn schon im Vorjahre trockengelegt, war aber dann später doch genötigt gewesen, ihn wieder in See stechen zu lassen. Jetzt war ein Leck entstanden, und infolge dieser Havarie war der »Orion« nach Toulon zurückgekommen.
Er war am Arsenal vor Anker gegangen. Bald wurde an seiner Wiederherstellung gearbeitet. Wenigstens am Steuerbord war der Rumpf unverletzt, doch hatten sich einige Verkleidungen abgelöst, so daß man, wie das üblich ist, die Luken öffnen mußte, um Luft eindringen zu lassen und die Austrocknung zu beschleunigen.
Eines Morgens nun war die neugierige Menge Zeugin folgenden Vorfalls:
Die Mannschaft war gerade damit beschäftigt, die Segel festzumachen. Da verlor der Marsgast, der eben dabei war, das Hauptmarssegel über Steuerbord hochzuziehen, das Gleichgewicht. Man sah ihn taumeln, die Menge auf dem Arsenalquai schrie auf, kopfüber stürzte der Mann mit ausgestreckten Armen in die Tiefe; halbenwegs bekam er zuerst mit einer, dann mit beiden Händen die falsche Pertleine zu fassen und blieb hängen. Tief unter ihm das Meer. In seinem Fall hatte er die Pertleine zum Schwingen gebracht. Er hing am Ende des Taues und schaukelte in der Luft.
Ihm zu Hilfe zu eilen, bedeutete, sich einer furchtbaren Gefahr aussetzen. Keiner der Matrosen, die übrigens ausnahmslos neugepreßte Fischer aus dem Küstenland waren, wagte, sich dieser Aufgabe zu unterziehen. Schon ermüdete der Marsgast, man konnte sein angstverzerrtes Gesicht, seine Erschöpfung erkennen. Seine Arme zitterten in furchtbarer Anstrengung. Jeder Versuch, sich hochzuziehen, verschlimmerte nur die Schaukelbewegung der Pertleine. Er schrie nicht, weil er befürchtete, Kraft zu verlieren. Jeden Augenblick mußte er fallen, und schon wandten alle die Augen ab, um ihn nicht im Sturz zu sehen. Es gibt Augenblicke, in denen das Ende eines Stricks, der Zweig eines Baumes ein Leben hält, und es ist furchtbar, ein Lebewesen abreißen und fallen zu sehen wie eine reife Frucht.
Plötzlich bemerkte man einen Mann, der mit der Gewandtheit einer Tigerkatze den Mast hinaufkletterte. Er trug die rote Kleidung des Sträflings; seine grüne Mütze ließ erraten, daß er ein »Lebenslänglicher« war. Auf der Höhe des Marssegels angelangt, verweilte er einen Augenblick; ein Windstoß trug ihm die Kappe fort, und man sah, daß er weiße Haare hatte.
In der Tat hatte sich sofort nach dem Unfall ein Sträfling, der an Bord Bagnodienst tat, an den Wachtoffizier gewandt und inmitten des Zögerns und der Verwirrung der ganzen Besatzung um die Erlaubnis gebeten, sein Leben riskieren und den Marsgast retten zu dürfen. Auf einen bejahenden Wink des Offiziers hatte er mit einem Hammerschlag die Kette, die sein Fußgelenk umschloß, zerschmettert, einen Strick ergriffen und war bis zu den Rahen emporgeklettert. Niemand beachtete in diesem Augenblick die Leichtigkeit, mit der er die Kette zerschlagen hatte. Erst später erinnerte man sich dieses Umstandes.
Im nächsten Augenblick, wie gesagt, war er auf den Rahen. Er hielt einen Augenblick inne und maß mit den Augen den Abstand. Diese Sekunden – der Wind schaukelte inzwischen den Marsgast am Ende des Taues – schienen den Zuschauern am Quai wie Jahrhunderte. Endlich blickte der Sträfling zum Himmel auf und tat einen Schritt vor. Die Menge atmete auf. Er lief die Rahen lang. An der Spitze angekommen, bückte er sich, band das eine Ende des mitgebrachten Seiles fest und ließ das andere in die Tiefe fallen. Im nächsten Moment kletterte er an diesem Seil hinab, zum unaussprechlichen Entsetzen der Zuschauer, die jetzt zwei Menschen über dem Abgrund hängen sahen.
Man mußte ihn, wenn man ihn so herabklettern sah, für eine Spinne halten, die eine Fliege fängt – nur brachte diese Spinne das Leben, nicht den Tod. Zehntausend Blicke waren auf die beiden gerichtet. Kein Schrei, kein Wort, nicht einmal ein Wimpernzucken … alle hielten den Atem an, als ob sie fürchten müßten, der geringste Hauch könne die beiden Gefährdeten vernichten.
Endlich hatte der Sträfling den Matrosen erreicht. Es war auch die höchste Zeit; eine Minute später hätte der Mann sich, erschöpft und verzweifelt, in den Abgrund fallen lassen. Der Sträfling band ihn an dem Seil fest, an dem er sich selbst mit der einen Hand hielt, während er mit der anderen arbeitete. Schließlich sah man ihn wieder zu den Rahen emporklettern und den Matrosen nachziehen. Er ließ ihn dort einen Augenblick aufatmen, um Kräfte zu sammeln, nahm ihn dann in die Arme und trug ihn bis nach dem Mars, wo er ihn den Händen seiner Kameraden übergab.
Die Menge brach in stürmischen Beifall aus. Alte Kerkermeister hatten Tränen in den Augen, Frauen sanken einander in die Arme, alle verlangten in höchster Erregung, der Held solle begnadigt werden.
Dieser hatte sich angeschickt, wieder hinabzusteigen, um sich sofort wieder an die Kette legen zu lassen. Vielleicht um rascher zu sein, ließ er sich an dem Mast hinab, bis er zur nächsten Rahe kam und lief an dieser entlang. Alle Augen folgten ihm. Es gab einen Augenblick der Besorgnis. Sei es, daß er übermüdet war, sei es, daß ihm schwindelte, man glaubte ihn zögern und fallen zu sehen. Plötzlich gellte ein einziger Schrei aus der Menge auf: der Sträfling fiel ins Meer.