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Der Sturz war gefährlich. Die Fregatte »Algeciras« war neben dem »Orion« vor Anker gegangen; der unglückliche Galeerensträfling war also zwischen diese beiden Schiffe gefallen. Man mußte befürchten, daß er, auftauchend, unter eines der beiden geraten würde. Eilig sprangen vier Mann in ein Boot. Die Menge feuerte sie an, wieder peitschte die Angst alle Geister. Aber der Mann tauchte nicht an der Oberfläche auf. Er war im Meere versunken, ohne eine Spur zu hinterlassen, als ob er in eine Tonne Öl gefallen wäre. Man suchte nach ihm, vergeblich. Bis Abend wurden die Bemühungen fortgesetzt, aber auch seine Leiche konnte nicht geborgen werden.

Am nächsten Tag widmete das »Journal de Toulon« diesem Vorfall einige Zeilen:

17. November 1823.

Gestern fiel ein Sträfling, der an Bord des »Orion« Dienst tat, nachdem er einem Matrosen Hilfe gebracht hatte, ins Meer und ertrank. Die Leiche konnte nicht geborgen werden. Man nimmt an, daß sie an den Pfeilern des Arsenals hängengeblieben ist. Dieser Mann war im Register unter Nr. 9 430 eingetragen und hieß Jean Valjean.

Zweites Buch

Einlösung eines Versprechens, das der Toten gegeben wurde

Wassermangel in Montfermeil

Montfermeil liegt zwischen Livry und Chelles, am Südrand des Plateaus zwischen Ourq und Marne. Heutzutage ist es ein recht stattlicher und hübscher Platz, in dem es nicht an schönen Villen und Sonntags an Ausflüglern fehlt. 1823 aber gab es dort weder weiße Häuser noch vergnügte Bürgersleute; damals war Montfermeil ein Dorf, das im Walde verloren lag. Wohl gab es einige Landhäuser aus dem 18. Jahrhundert, erkennbar an ihrem vornehmen Aussehen, ihren Gußeisenbalkons und hohen Fenstern, aber darum war der Ort doch nur ein Dörfchen. Noch hatten ihn die reichen Tuchhändler, die sich zur Ruhe setzen, nicht entdeckt. Ruhig und gefällig lag er da, ohne Verkehr, ein Platz, an dem es sich billig, einsam und gemächlich leben läßt. Nur fehlte es wegen des hochgelegenen Plateaus an Wasser.

Es mußte von ziemlich weit herbeigeschafft werden. Das Ende des Dorfes, das gegen Gagny hin liegt, bezieht sein Wasser aus den prächtigen Teichen, die im Walde liegen; das andere, rings um die Kirche und gegen Chelles hin, mußte sich das Trinkwasser aus einer kleinen Quelle beschaffen, die, etwa eine Viertelstunde von Montfermeil entfernt, an der Cheller Straße lag.

Daher kam es, daß die Wasserversorgung oft recht schwierige Aufgaben stellte. Die vornehmen Haushalte, die Aristokratie von Montfermeil, zahlten einen Liard für den Scheffel Wasser und ließen es von einem Mann heranschaffen, der sich nur dieser Aufgabe widmete und mit der Wasserversorgung von Montfermeil etwa acht Sous täglich verdiente. Aber der gute Mann arbeitete im Sommer nur bis sieben Uhr abends, im Winter gar nur bis fünf, so daß, wer bei Einbruch der Nacht kein Wasser im Hause hatte, entweder selbst welches holen oder sich den Durst verkneifen mußte.

Das war der Schrecken dieses armen Geschöpfs, das unsere Leser gewiß nicht vergessen haben, der kleinen Cosette. Man erinnert sich, daß Cosette den Thénardiers doppelt nützlich war, denn einerseits mußte ihre Mutter Kostgeld bezahlen, andererseits leistete das Kind Dienste. Als nun die Mutter mit ihren Zahlungen in Verzug geriet, behielten, wie in den vorigen Kapiteln auseinandergesetzt worden ist, die Thénardiers Cosette. Sie ersetzte ihnen eine Magd. Darum auch hatte sie, wenn es an Wasser fehlte, welches zu besorgen. Und da das Kind sich nicht wenig davor fürchtete, des Nachts zu jener Quelle zu gehen, achtete es um so aufmerksamer darauf, daß das Wasser schon des Tages im Hause nicht ausging.

Weihnachten des Jahres 1823 waren für Montfermeil besonders glänzend. Der Winter hatte mild eingesetzt. Noch hatte es nicht geschneit. Pariser Akrobaten hatten von dem Bürgermeister die Erlaubnis erhalten, in der Hauptstraße des Dorfes Buden aufzustellen, und eine Menge wandernder Händler hatte von der gleichen Erlaubnis Gebrauch gemacht und auf dem Kirchplatz, ja bis zur Bäckergasse hinab, wo die Thénardiers ihre Wirtschaft betrieben, Hökerbuden aufgestellt. So kam Leben in die Gastwirtschaften und Budiken, und das liebe Dörfchen sah fröhliche und erregte Tage.

Am Weihnachtsabend saßen mehrere Männer, Fuhrleute und Hausierer, an dem mit vier oder fünf Kerzen bestellten Tische des Gastzimmers. Es war ein Speiseraum, wie ihn alle Budiken dieser Art aufweisen. Tische, Zinnkrüge, Flaschen, Trinker und Raucher; wenig Licht, viel Lärm. Die Thénardier überwachte das Abendbrot, das noch an einem hellen Feuer schmorte. Herr Thénardier trank mit seinen Gästen und bestritt die Kosten des politischen Gesprächs.

Cosette befand sich an ihrem gewöhnlichen Aufenthaltsort, sie hockte unter dem Küchentisch neben dem Kamin. Ihre Kleider waren zerlumpt, an den nackten Füßen hatte sie Holzpantinen. Im Schein des Kaminfeuers strickte sie an Wollstrümpfen, die für die kleinen Töchter der Thénardiers bestimmt waren. Aus einem Nebenzimmer hörte man das Lachen und Scherzen zweier Kinderstimmen. Das waren Eponine und Azelma.

Im Kaminwinkel hing auf einem Nagel eine Karbatsche.

Zuweilen übertönte der Schrei eines kleinen Kindes, das in einem anderen Raum des Hauses untergebracht sein mochte, den Lärm in der Gaststube. Das war der kleine Knabe, den die Thénardier in einem der vorigen Winter bekommen hatte, »ohne zu wissen warum, offenbar als Wirkung der Kälte«, wie sie sagte. Er war jetzt etwa drei Jahre alt. Die Mutter hatte ihn genährt, aber sie konnte ihn nicht leiden. Wenn das Geschrei unerträglich wurde, sagte Thénardier wohl zu ihr:

»Dein Junge jault schon wieder. Sieh doch nach, was er will.«

»Ach laß doch«, antwortete die Mutter, »er langweilt mich.«

Und der vernachlässigte Kleine jammerte in der Dunkelheit weiter.

Vervollständigung zweier Porträts

Wir haben bisher die Thénardiers gewissermaßen nur im Profil gezeigt. Jetzt ist es an der Zeit, sich wieder mit diesem würdigen Paar zu beschäftigen und es von allen Seiten zu betrachten.

Thénardier hatte die Fünfzig überschritten. Frau Thénardier mochte bald Vierzig erreichen. Aber da Frauen mit vierzig ebenso weit sind wie Männer mit fünfzig, konnte man sagen, die beiden seien gleich alt.

Unsere Leser erinnern sich vielleicht noch an die erste Schilderung dieser Frau, einer großen, blonden, geröteten, vierschrötigen Person. Sie besorgte die ganze Wirtschaft, hielt die Zimmer instand, führte die Küche. Ihre einzige Bediente war Cosette: das Mäuschen im Dienste eines Elefanten. Alles zitterte, wenn die Thénardier sprach, Fensterscheiben, Möbel und Menschen. Ihr breites, mit Sommersprossen übersätes Gesicht glich einem Sieb. Auch hatte sie einen Bart. Sie sah aus wie ein Schwerathlet, der sich als Mädchen verkleidet hat. Fluchen konnte sie prachtvoll, und sie rühmte sich, daß sie eine Nuß mit der Faust sprengen konnte. Wenn sie nicht ihre Romane gelesen hätte – wovon eine gewisse Geziertheit und Zimperlichkeit ihres Wesens herrührte –, wäre wohl niemand darauf verfallen, sie für ein Weib zu halten. Hörte man sie reden, so dachte man: ein Gendarm. Sah man sie trinken, sagte man wohclass="underline" ein Fuhrmann. Malträtierte sie Cosette, so dachte man: ein Henker.

Wenn sie schlief, stand stets ein Zahn aus ihrem Munde hervor.

Thénardier war ein kleiner, magerer, schwächlich aussehender Mann, der krank zu sein schien; dabei fühlte er sich glänzend, sogar seine Krankheit war nur Betrug. Er pflegte vorsichtshalber immer zu lächeln und war zu fast allen Leuten höflich, sogar zu dem Bettler, dem er einen Pfennig verweigerte. In seinem Blick war etwas von einem Marder, und dem Gesicht nach hätte man ihn für einen Schriftsteller halten können. Eine gewisse Ähnlichkeit mit den Bildnissen des Abbé Delille fiel auf. Bei den Fuhrleuten kehrte er den großen Trinker heraus. Noch nie hatte ihn jemand unter den Tisch trinken können; er rauchte aus einer großen Pfeife.