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Unter einer Bluse trug er ein schwarzes Gewand. Gern wollte er für literarisch gebildet gelten und kehrte den Materialisten heraus. Oft berief er sich auf irgendwelche große Namen, wenn er einen eigenen Gedanken bekräftigen wollte, nannte Voltaire, Raynal, Parny und seltsamerweise auch den heiligen Augustinus. Er behauptete fest und steif, er habe eine Weltanschauung. Er war halb Philosoph, halb Schurke. Wie unsere Leser sich erinnern, behauptete er, gedient zu haben. Weitschweifig erzählte er, wie er bei Waterloo als Sergeant der Sechser allein gegen eine Eskadron Totenkopfhusaren gekämpft hätte; und schließlich hatte er im Feuer einer Kugelspritze mit seinem Leibe einen gefährlich verwundeten General gedeckt und gerettet. Daher rührte auch die Darstellung auf seinem Wirtshausschild und der Name seiner Kaschemme, die »Wirtshaus des Sergeanten von Waterloo« hieß. Tatsache ist, daß er am 18. Juni 1815 bei Waterloo als Leichenfledderer einen Stabsoffizier, einen gewissen Pontmercy, bestohlen, und, als dieser zu Bewußtsein gekommen war, zur Meinung gebracht hatte, er sei sein Retter.

Er war liberal, bonapartistisch gesinnt. Er hatte sich an dem Volksbegehren für das Asyl beteiligt. Im Dorf hieß es, er sei in einem Priesterseminar erzogen.

Unserer Meinung nach war er in Holland zum Kellner ausgebildet worden. Aller Wahrscheinlichkeit nach war er ein Flamländer aus Lille, der in Paris den Franzosen, in Brüssel den Belgier spielte: stets nach beiden Seiten hin gedeckt. Was seine Heldentaten betrifft, so übertrieb er wohl. Das Abenteuer war sein Lebenselement. In Wirklichkeit hatte er an jenem Junitage 1815 zu den Fledderern und Marketendern gehört, die jedem verkauften, jeden bestahlen und hinter jeder Truppe herliefen, meist mit dem guten Instinkt für den Sieger. Dieser Feldzug hatte ihm, wie er sich ausdrückte, Quibus eingebracht, und damit hatte er seine Gastwirtschaft in Montfermeil gegründet.

Aber Quibus, gestohlene Börsen und Uhren, goldene Ringe und silberne Kreuze, der Ertrag eines Schlachtfeldes, reichte nicht aus, um es wirklich weiterzubringen. Thénardier hatte im Jahre 1823 etwa fünfzehnhundert Franken Schulden angesammelt, und die Sorgen drohten ihn zu verschlingen.

Wein für Menschen, Wasser für die Pferde

Vier neue Gäste waren eingetreten.

Cosette war in trübsinniges Nachdenken versunken; denn obwohl sie erst acht Jahre zählte, hatte sie schon so viel durchgemacht, daß sie düster wie eine Greisin zu grübeln verstand.

Ihr eines Auge war von einem Faustschlage der Thénardier blau angelaufen, was jener liebenswürdigen Frau Gelegenheit gegeben hatte, zu äußern, die Kleine sehe doch wirklich allzu häßlich aus.

Cosette dachte darüber nach, daß es jetzt Nacht sei, pechschwarze Nacht, und daß die Karaffen und Krüge in den Zimmern der Neuankömmlinge wohl gefüllt werden müßten; und daß kein Wasser mehr im Zuber war.

Eine gewisse Beruhigung bereitete es ihr, daß im Hause Thénardier nicht viel Wasser getrunken wurde. An Durst fehlte es den Leuten ja nicht, die hier vorbeikamen, aber sie hielten sich doch lieber an den Weinkrug als an die Wasserflasche. Wer hier inmitten so vieler Weintrinker ein Glas Wasser verlangt hätte, wäre für einen Tropf gehalten worden.

Und doch gab es einen Augenblick, in dem das Mädchen zitterte. Das war, als die Thénardier den Deckel von einer Kasserolle hob, die auf dem Herd stand, ein Glas nahm und rasch zu dem Zuber trat. Sie drehte den Hahn auf, und das Kind, das den Kopf gehoben hatte, beobachtete scharf den dünnen Faden Wassers, der auslief. Das Glas wurde nur zur Hälfte gefüllt.

»Holla, kein Wasser mehr!« hatte die Thénardier gesagt. Das Kind atmete nicht.

»Ach was«, sagte die Thénardier und prüfte ihr halbgefülltes Glas, »es wird auch so gehen.«

Cosette wandte sich wieder ihrer Arbeit zu, aber eine Viertelstunde lang klopfte ihr Herz, als ob es zerspringen sollte.

Zuweilen tat einer der Trinker einen Blick auf die Straße hinaus und rief etwa:

»Finster wie in einem Backofen!« oder: »In eine solche Finsternis getraut sich wohl nur eine Katze ohne Laterne.«

Dann begann Cosette von neuem zu zittern.

Jetzt trat einer der Hausierer in die Gaststube und sagte ärgerlich:

»Mein Pferd hat kein Wasser bekommen!«

»Doch«, sagte die Thénardier.

»Und ich sage Ihnen, daß es keines bekommen hat, Frau«, antwortete der Hausierer.

Cosette war unter dem Tisch hervorgekrochen.

»Doch, Herr«, rief sie, »das Pferd hat getrunken, einen ganzen Eimer voll. Ich selbst habe ihm den Eimer gebracht.«

Cosette log.

»Was, du kleiner Däumling, du lügst ja schon wie eine Große!« rief der Hausierer, »ich sage dir, daß das Pferd kein Wasser bekommen hat, freche Range! Es hat eine Art zu schnaufen, wenn es kein Wasser bekommen hat, die ich sehr wohl kenne.«

Mit einer Stimme, die vor Angst heiser war, bestand Cosette darauf:

»Doch, es hat getrunken.«

»Schluß!« rief der Hausierer wütend, »mein Pferd muß Wasser kriegen, mehr ist darüber nicht zu sagen.«

Cosette kroch wieder unter den Tisch.

»Natürlich«, sagte die Thénardier, »wenn das Tier kein Wasser gekriegt hat, so muß es jetzt welches kriegen.«

Sie blickte um sich.

»Wo ist denn die Kleine?«

Sie bückte sich und sah Cosette, die sich unter dem Tisch fast zwischen den Beinen der anderen Zecher verkrochen hatte.

»Willst du wohl hervorkommen!« schrie sie.

Cosette tauchte aus dem Loch auf, in dem sie sich verborgen hatte.

»Nun, du Wechselbalg, hol Wasser für das Pferd!«

»Aber es ist doch kein Wasser mehr da«, sagte Cosette schwach.

Die Thénardier riß die Türe auf.

»Nun, dann hol’ welches.«

Cosette ließ den Kopf hängen, dann holte sie aus der Kaminecke einen leeren Zuber. Er war größer als sie, das Kind hätte sich bequem hineinsetzen können.

Die Thénardier trat wieder an den Herd und kostete mit einem Holzlöffel aus der Kasserolle.

»Das ist ganz gut«, murmelte sie, »das kann gar nicht schaden. Ich glaube, ich hätte meine Zwiebel passieren können.«

Sie zog eine Lade auf und suchte zwischen Kleingeld, Pfeffer und Schalotten eine Münze heraus.

»Da, du Assel, am Rückweg holst du vom Bäcker ein großes Brot. Hier sind fünfzehn Sous.«

Cosette hatte eine kleine Tasche in ihrer Schürze; wortlos nahm sie die Münze und steckte sie ein.

Dann blieb sie stehen, den Zuber in Händen, spähte durch die offene Tür hinaus. Es war, als ob sie von irgendwo Hilfe erwartete.

»Los, was stehst du noch da!« schrie die Thénardier.

Cosette ging.

Eine Puppe erscheint auf der Szene

Auf dem Wege zur Kirche waren die Hökerbuden in langer Zeile aufgereiht. Da die Stunde des Gangs zur Mette bevorstand, waren in zahlreichen Lampions Kerzen angezündet, was der Straße, wie der Schulmeister von Montfermeil sagte, ein magisches Aussehen gab. Dafür war kein Stern am Himmel zu sehen.

Die letzte der Buden, die gerade Thénardiers Tür gegenüberstand, hatte allerlei bunte Flitter, Glassachen und glitzerndes Blechzeug ausgestellt. In der vordersten Reihe aber stand eine ungeheure, fast zwei Fuß hohe Puppe, die in ein rosa Kreppkleidchen gehüllt war, ein Goldhäubchen auf dem Kopf trug, Emailleaugen und echte Haare hatte. Den ganzen Tag über war dieses Wunder die Augenweide aller zehnjährigen Mädchen von Montfermeil gewesen, ohne daß sich auch nur eine einzige Mutter gefunden hätte, die so reich oder so verschwenderisch war, ihrem Kinde ein solches Geschenk zu machen. Eponine und Azelma hatten Stunden damit verbracht, sie anzuschauen, und auch Cosette hatte ihr einen, wir müssen es der Wahrheit halber feststellen, flüchtigen Blick zugeworfen.

Als Cosette nun aus dem Hause trat, bedrückt und niedergeschlagen, wie sie war, konnte sie es sich doch nicht verkneifen, dieser herrlichen Puppe, der »Dame«, wie sie sie nannte, einen Blick zu gönnen. Wie versteinert blieb das arme Kind stehen. Aus der Nähe hatte sie dieses Wunderwerk noch nicht gesehen. Für sie war die Hökerbude ein Palais, die Puppe eine Vision. Sie war Pracht, Reichtum, Glück, sie erschien diesem armen, von düsterem Elend niedergedrückten Kind wie ein schimärisch strahlendes Wesen. Cosette maß mit dem naiven und zugleich traurigen Eifer der Kindheit die Kluft, die sie von dieser Puppe trennte. Sie begriff, daß man Königin oder mindestens Prinzessin sein müßte, um so etwas besitzen zu dürfen. Sie betrachtete das schöne rosa Kleidchen, das herrliche Haar und dachte: wie glücklich muß diese Puppe sein!