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Es war, als ob ein elektrischer Schlag den Mann treffe. Er sah sie noch einmal an, griff dann wieder nach dem Zuber und begann zu gehen.

»Wo wohnst du?« fragte er nach einiger Zeit.

»In Montfermeil.«

»Gehen wir hier richtig?«

»Ja, guter Herr.«

Nach einer Pause begann er wieder zu fragen:

»Wer schickt dich denn um diese Zeit nach Wasser in den Wald?«

»Frau Thénardier.«

Offenbar suchte der Mann seine Erregung zu verbergen, aber seine Stimme zitterte eigentümlich.

»Wer ist denn das, diese Frau Thénardier?«

»Meine Gnädige«, sagte das Kind. »Sie hat die Wirtschaft.«

»Die Wirtschaft? Nun, ich werde heute nacht dort schlafen. Führe mich!«

»Wir sind gerade auf dem Wege dahin.«

Der Mann ging ziemlich rasch, aber Cosette folgte ihm mühelos. Sie fühlte sich jetzt nicht mehr müde. Mehrmals blickte sie ruhig und vertrauensvoll zu ihm auf. Man hatte sie nicht gelehrt, zur Vorsehung aufzublicken und zu beten. Doch empfand sie jetzt etwas wie Hoffnung oder Freude.

So verstrichen einige Minuten.

Der Mann begann wieder zu fragen:

»Hat denn Frau Thénardier keine Magd?«

»Nein.«

»Also bist du allein?«

»Ja, guter Herr.«

Wieder folgte eine Pause.

»Eigentlich, sie hat ja die zwei Mädchen«, begann diesmal Cosette.

»Welche Mädchen?«

»Ponine und Zelma.«

So kürzte das Kind die romantischen Namen ab, die der Thénardier so teuer waren.

»Wer ist das, Ponine und Zelma?«

»Das sind die Fräuleins von Frau Thénardier; ihre Töchter.«

»Und was tun die beiden?«

»Oh, sie haben schöne Puppen, Goldsachen, alles mögliche. Sie spielen und unterhalten sich.«

»Den ganzen Tag?«

»Ja, guter Herr.«

»Und du?«

»Ich arbeite. Manchmal, wenn die Arbeit zu Ende ist und wenn man es mir erlaubt, unterhalte ich mich auch.«

»Wie machst du das?«

»Wie es geht. Ich habe nicht viel Spielzeug. Ponine und Zelma wollen nicht, daß ich mit ihren Puppen spiele. Ich habe einen Bleisäbel, so lang«, und sie zeigte den kleinen Finger.

»Schneidet er denn?«

»Doch, guter Herr, Salat und Köpfe von Fliegen.«

Sie erreichten das Dorf. Cosette führte den Fremden durch die Straßen. Sie kamen auch an der Bäckerei vorüber, aber Cosette dachte nicht an das Brot, das sie mitbringen sollte. Der Mann hatte aufgehört zu fragen und schwieg dumpf. Als sie aber die Kirche hinter sich hatten, bemerkte er die Hökerbuden und fragte:

»Ist denn hier Jahrmarkt?«

»Nein, guter Herr, Weihnachten.«

Sie näherten sich jetzt der Herberge. Scheu berührte Cosette seinen Arm.

»Guter Herr …?«

»Nun?«

»Wir sind jetzt gleich zu Hause.«

»Ja, und?«

»Wollen Sie mir jetzt den Zuber geben?«

»Warum?«

»Wenn Frau Thénardier sieht, daß man ihn mir getragen hat, prügelt sie mich.«

Der Mann gab ihr den Zuber. Im nächsten Augenblick standen die beiden vor dem Eingang der Herberge.

Unannehmlichkeit, einen Armen bei sich aufzunehmen, der vielleicht reich ist

Cosette konnte sich nicht enthalten, einen Blick nach der großen Puppe zu werfen, die noch immer in der Schaubude hellbeleuchtet stand, dann klopfte sie. Es wurde geöffnet. Die Thénardier stand mit der Kerze in der Hand auf der Schwelle.

»Ah, da bist du ja, kleines Aas! Du hast ja schön lang gebraucht! Wo hast du dich denn herumgetrieben, Fratz?«

»Da ist ein Herr, der hier schlafen will«, sagte Cosette zitternd.

Sofort wechselte die Thénardier ihre Miene, wurde liebenswürdig, wie das bei den Gastwirten üblich ist, und faßte den Fremden ins Auge.

»Ist das der Herr?«

»Ja, Frau«, sagte der Mann und führte die Hand zum Hute.

Reiche Reisende pflegen nicht so höflich zu sein. Diese Gebärde, des weiteren auch der kurze Blick, den die Thénardier auf Kleidung und Gepäck des Fremden warf, ließ die liebenswürdige Miene wieder verschwinden, und sie sagte trocken:

»Treten Sie ein, guter Mann.«

Der »gute Mann« folgte. Die Thénardier warf ihm einen zweiten Blick zu, prüfte den Rock, der schon ganz fadenscheinig war, bemerkte, daß der Hut bereits die Form verloren hatte, und wandte sich dann mit einem Zwinkern und Rümpfen der Nase zu ihrem Mann, der noch immer mit den Fuhrleuten zechte. Thénardier antwortete mit einem kaum merklichen Wink des Zeigefingers und zugleich mit einem verächtlichen Herabziehen der Mundwinkel; das bedeutete in diesem Falle: Herr Habenichts!

Jetzt wandte sich die Thénardier wieder dem Fremden zu.

»Ich habe leider keine Schlafstelle mehr frei, guter Mann.«

»Bringen Sie mich unter, wo immer Sie wollen, auf dem Boden oder im Stall. Ich werde so viel zahlen wie für ein Zimmer.«

»Kostet vierzig Sous.«

»Gut, vierzig Sous.«

»Nun denn, von mir aus.«

»Vierzig Sous«, sagte ein Kutscher leise zu Thénardier, »das ist doch zuviel? Es kostet doch nur einen Franken!«

»Für den zwei«, erwiderte die Thénardier in gleichem Ton. »Ganz Arme nehme ich billiger nicht an.«

»Das ist ganz richtig«, fügte ihr Gatte freundlich hinzu, »das schadet dem Hause, wenn man solche Gäste hat.«

Inzwischen hatte der Mann sein Bündel und seinen Stock abgelegt und an einem Tisch Platz genommen; Cosette beeilte sich, eine Flasche Wein und ein Glas vor ihn hinzustellen. Der Hausierer, der Wasser für sein Pferd verlangt hatte, ging in den Stall. Jetzt nahm Cosette ihren Platz unter dem Küchentisch wieder ein und griff nach der Strickerei.

Der Fremde hatte kaum an dem Wein genippt; mit seltsamer Teilnahme betrachtete er das Kind.

Cosette war häßlich. Wenn sie glücklich gewesen wäre, hätte sie ein hübsches Kind sein können. Wir haben das traurige kleine Geschöpf schon gezeichnet. Sie war mager und blaß, sah trotz ihrer acht Jahre kaum wie sechs Jahre alt aus. Ihre großen, tiefliegenden Augen waren vom Weinen fast erloschen. Ihre Mundwinkel waren gekrümmt, wie man es bei Menschen findet, die viel Angst ausstehen, zumal bei Verurteilten und unheilbar Kranken. Ihre Hände waren von Frostbeulen entstellt. Das Kaminfeuer, dessen Licht auf die Kleine fiel, hob die scharf vorspringenden Knochen deutlich hervor und betonte die Magerkeit des armen Geschöpfs. Da das Kind immer fror, hatte es sich daran gewöhnt, die beiden Knie gegeneinander zu pressen. Seine Kleidung bestand aus einem elenden Fetzen, der im Sommer Mitleid, im Winter Grauen erregen mußte. Sie hatte nur ein zerschlissenes Stück Leinen auf dem Leibe, kein Stückchen Wolle. Stellenweise kam die bloße Haut zum Vorschein, und man konnte die blauen und schwarzen Flecken erkennen, die von Frau Thénardiers Mißhandlungen herrührten. Die nackten Beine waren gerötet. Die ganze Erscheinung des Kindes, sein Gehaben, der Klang seiner Stimme, die langen Pausen zwischen den Worten, sein Blick, jede Geste, alles verriet den einzigen Trieb, der das unglückliche Wesen beherrschte – die Furcht.

Alles an ihr war Furcht; die Furcht ließ Cosette die Ellbogen an die Hüften pressen und die Fersen an sich ziehen, den Atem anhalten und eine Haltung einnehmen, in der sie möglichst wenig Raum brauchte. In der Tiefe ihrer Augen lag Verwunderung und Schrecken.

Der Mann in dem gelben Rock ließ sie nicht aus den Augen.

Plötzlich rief die Thénardier:

»Nun, und das Brot?«

Wie immer, wenn die Thénardier laut sprach, kam Cosette unter dem Tisch hervor. Sie hatte das Brot vollständig vergessen. So zog sie sich in die Verteidigungsstellung aller verängstigten Kinder zurück – sie log.

»Der Bäcker hatte schon geschlossen.«

»Dann mußtest du anklopfen.«

»Ich habe geklopft, aber er hat nicht geöffnet.«