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»Ich werde ihn morgen fragen, ob das wahr ist. Wenn du gelogen hast, so sollst du etwas zu spüren bekommen. Jetzt gib mir die fünfzehn Sous zurück.«

Cosette griff in die Tasche und wurde totenblaß. Die fünfzehn Sous waren nicht mehr da.

»Vorwärts«, schrie die Thénardier, »hast du gehört!«

Cosette wandte ihre Tasche um. Nichts. Wo mochte die Münze hingekommen sein? Die Kleine brachte kein Wort über die Lippen. Sie war wie zu Stein erstarrt.

»Hast du es vielleicht verloren?« schrie die Thénardier, »oder willst du es mir stehlen?«

Und sie streckte die Hand nach der Karbatsche aus, die in der Kaminecke hing.

Jetzt fand Cosette die Kraft zu schreien.

»Nein, ich tu’s nicht wieder!«

Schon hatte die Thénardier die Karbatsche in der Hand.

Der Mann in dem gelben Rock hatte in seine Westentasche gegriffen, ohne daß jemand darauf geachtet hätte. Übrigens waren die anderen Gäste mit Trunk und Spiel beschäftigt und kümmerten sich nicht um das, was vorging.

Cosette drückte sich angstvoll in die Kaminecke und suchte ihre armen halbnackten Glieder nach Möglichkeit zu decken. Die Thénardier holte aus.

»Einen Augenblick, Frau«, sagte der Mann, »aber da ist der Kleinen eben etwas aus der Tasche gefallen und unter den Tisch gerollt. Vielleicht ist es die Münze, die Sie suchen?«

Er bückte sich und schien nach etwas zu greifen.

»Richtig, da ist es«, sagte er und reichte die Münze der Thénardier.

»Allerdings …«

Cosette kroch unter den Tisch zurück, in »ihren Winkel«, wie es die Thénardier nannte; ihr großes Auge war erstaunt auf den Fremden gerichtet und nahm einen Ausdruck an, den es bisher nicht gekannt hatte.

»Wollen Sie nicht etwas essen?« fragte die Thénardier den Gast.

Er antwortete nicht. Offenbar dachte er tief nach.

Eine Tür ging auf, Eponine und Azelma traten ein.

Die Kleinen waren wirklich hübsch und glichen eher Bürgermädchen als Bauerntöchtern; die eine hatte glänzendes, kastanienbraunes Haar, die andere lange, schwarze Zöpfe, die auf den Rücken herabhingen; beide waren lebhaft, sauber, frisch, und es war eine Freude, sie anzuschauen. Sie waren warm und so geschickt gekleidet, daß die Dicke des Wollstoffs nicht ungeschmeidig wirkte. Auch bewies das sichere Auftreten der Kinder, daß sie nicht schüchtern waren. Als sie eintraten, hatte die Thénardier mürrisch, aber doch voll zärtlicher Liebe gesagt:

»Ach, da seid ihr ja wieder!«

Dann hob sie eine nach der andern auf den Schoß, strich ihnen die Haare aus dem Gesicht, glättete die Schleifen und setzte sie sanft, wie es nur Mütter tun, wieder auf die Erde.

Die beiden Mädchen hatten eine Puppe mitgebracht, mit der sie aufs anmutigste spielten. Zuweilen blickte Cosette von ihrer Strickarbeit auf, ihr Blick war düster.

Eponine und Azelma achteten nicht darauf. Für sie war Cosette wie ein Hund. Diese drei Mädchen zählten zusammen keine vierundzwanzig Jahre, und doch waren sie schon eine Kopie der menschlichen Gesellschaft: hier Neid – hier Verachtung.

Die Puppe der Schwestern Thénardier sah recht abgerissen und alt aus, nichtsdestoweniger mußte sie Cosette bewunderungswürdig erscheinen, da sie doch in ihrem Leben niemals, wenn wir das Kinderwort gebrauchen wollen, eine richtige Puppe besessen hatte.

Plötzlich bemerkte die Thénardier, die in der Gaststube auf und ab ging, daß Cosette nicht arbeitete, sondern den beiden spielenden Mädchen zusah.

»So arbeitest du!« schrie sie. »Ich werde dich mit der Karbatsche arbeiten lehren!«

Ohne aufzustehen, wandte sich der Fremde der Thénardier zu.

»Lassen Sie sie doch spielen«, sagte er fast ängstlich.

Von einem Reisenden, der eine Hammelkeule und zwei Flaschen Wein bestellt hätte und nicht wie ein elender Schnorrer aussah, hätte dieser Wunsch einen Befehl bedeutet. Aber daß einer mit einem verbeulten Hut und einem abgeschabten Rock etwas wolle, glaubte die Thénardier nicht dulden zu dürfen. Darum sagte sie grob:

»Sie hat zu arbeiten, denn sie ißt ja auch. Ich ernähre sie nicht, damit sie faulenzt.«

»Was arbeitet sie denn da?« fragte der Fremde mit einer sanften Stimme, die nicht zu seinen Lastträgerschultern paßte.

»Strümpfe, wenn es Ihnen paßt«, antwortete die Thénardier. »Strümpfe für meine Töchter, die keine mehr haben und bald nackt laufen müssen.«

Der Fremde streifte die rotgefrorenen Beinchen Cosettes mit einem Blick und fuhr fort:

»Wie lange braucht sie, um solch ein Paar fertigzustricken?«

»Bei ihrer Faulheit gewiß drei oder vier Tage.«

»Und was mag ein solches Paar Strümpfe wert sein, wenn es fertig ist?«

Die Thénardier warf ihm einen verächtlichen Blick zu.

»Mindestens dreißig Sous.«

»Würden Sie es mir für fünf Franken ablassen?«

»Himmelherrgott!« rief einer der Fuhrleute, »für fünf Franken? Denke wohl! Für fünf Plemper!«

Jetzt glaubte Thénardier, ein Wort zur Sache sagen zu müssen.

»Nun, mein Herr, wenn es Ihre Laune will, sollen Sie dies Paar Strümpfe für fünf Franken haben. Wir schlagen unseren Gästen nicht gern etwas ab.«

»Aber das Geld muß gleich bezahlt werden«, sagte die Thénardier kurz und entschieden.

»Ich kaufe also dieses Paar Strümpfe«, erwiderte der Mann, zog ein Fünffrankenstück aus der Tasche und legte es auf den Tisch. »Hier ist das Geld.«

Dann wandte er sich an Cosette:

»Jetzt gehört deine Arbeit mir. Geh spielen, mein Kind!«

Thénardier trat an den Tisch und nahm wortlos das Fünffrankenstück. Seine Frau fand ihre Sprache nicht wieder. Sie biß sich in die Lippen, und ihr Gesicht verriet Haß.

Cosette zitterte, aber sie wagte doch zu fragen:

»Darf ich spielen?«

»Spiel schon!« schrie die Thénardier wütend.

»Danke«, flüsterte die Kleine.

Ihr Mund dankte der Wirtin, aber ihre kleine Seele wandte sich dem Fremden zu.

Thénardier hatte sich wieder an den Tisch der Zecher gesetzt. Seine Frau flüsterte ihm ins Ohr:

»Wer mag der Gelbe sein?«

»Ich habe Millionäre gesehen«, erwiderte Thénardier patzig, »die Röcke wie diesen anhatten.«

Cosette hatte ihren Strumpf beiseite gelegt, war aber auf ihrem Platz verblieben. Sie rührte sich immer so wenig als möglich. Aus einer Schachtel, die hinter ihr stand, hatte sie einige alte Tuchlappen und einen kleinen Bleisäbel genommen.

Eponine und Azelma achteten nicht darauf, was vorging. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt einer sehr wichtigen Maßnahme, sie hatten sich der Katze bemächtigt. Die Puppe war weggelegt worden, und Eponine, die Ältere, versuchte das Kätzchen, sosehr es sich auch sträubte und sosehr es miaute, in eine Menge kleiner roter und blauer Lappen zu wickeln. Während sie diese ernste und schwierige Arbeit vollbrachte, erklärte sie in dieser süßen und liebenswürdigen Sprache der Kinder, deren Anmut ebenso unnachahmlich ist wie der Glanz der Flügel eines Schmetterlings, den Zweck ihres Werkes:

»Siehst du, diese Puppe ist lustiger als die andere. Sie bewegt sich, sie schreit, sie ist sogar warm. Verstehst du, wir wollen mit ihr spielen. Sie ist meine Tochter, ich bin eine Dame. Ich komme zu dir zu Besuch, und du siehst sie. Da merkst du, daß sie einen Schnurrbart hat, und tust erstaunt. Hernach siehst du die Ohren und den Schwanz und staunst noch mehr. Und du sagst: Mein Gott, und ich sage darauf: Ja, Madame, das ist meine Tochter, und ich habe sie so bekommen. Heute sind die kleinen Mädchen so.«

Azelma hörte diesen Vorschlag Eponines mit Begeisterung.

Inzwischen hatten die Zecher begonnen, ein zotiges Lied zu singen, und sie brüllten so laut, daß die Decke davon zitterte. Thénardier stimmte ein und feuerte sie an.

Wie die Vögel aus allem ein Nest zustande bringen, machen Kinder aus den unmöglichsten Dingen eine Puppe. Während Eponine und Azelma die Katze als Fräulein herausputzten, bekleidete Cosette ihren Säbel. Dann nahm sie ihn auf den Arm und wiegte ihn in den Schlaf.