Die Thénardier war wieder zu dem Gelben zurückgekehrt. Mein Mann hat recht, dachte sie, vielleicht ist der Kerl ein Rothschild. Die Reichen sind oft so schrullig!
»Mein Herr …«, sagte sie.
Auf diese Anrede wandte sich der Fremde um. Bisher hatte die Thénardier ihn »guter Mann« angeredet.
»Sehen Sie, mein Herr«, fuhr sie fort und setzte ihre süßlichste Miene auf, die noch abstoßender wirkte als ihre wütende, »ich will ja gern, daß das Kind spielt, ich hab gar nichts dagegen, aber es geht doch nur einmal, weil Sie freigebig sind. Verstehen Sie, die hat nichts, darum muß sie arbeiten.«
»Ach, sie ist wohl nicht Ihr Kind?«
»Beileibe nein, Herr, es ist eine kleine Arme, die wir aus purem Mitleid aufgenommen haben. Und ein wenig blöd ist das Kind auch. Wahrscheinlich hat es Wasser im Kopf. Sehen Sie nur den großen Kopf an! Wir tun für sie, was wir können, aber wir sind nicht reich. Da ist es leicht, Briefe in ihre Heimat zu schreiben, man kriegt doch keine Antwort. Schon sechs Monate! Die Mutter muß gestorben sein.«
»So«, meinte der Mann und versank wieder in seine träumerische Stimmung.
»An der Mutter war auch nicht viel«, fuhr die Thénardier fort. »Sie hat das Kind im Stich gelassen.«
Während dieses Gesprächs hatte Cosette, der ein Instinkt zu sagen schien, daß von ihr die Rede war, kein Auge von der Thénardier gewandt. Vielleicht schnappte sie das eine oder andere Wort auf.
Endlich gab der »Millionär« dem Drängen der Wirtin nach und willigte darein, ein Abendbrot zu bestellen.
»Was befehlen der Herr?«
»Brot und Käse.«
Er ist doch ein Schnorrer, dachte die Thénardier.
Die Trinker waren noch immer bei ihrem Gesang, und auch Cosette summte unter dem Tisch vor sich hin. Plötzlich stockte sie. Sie hatte sich umgedreht und bemerkte die Puppe der kleinen Thénardiers, die zugunsten der Katze vernachlässigt worden war und am Boden lag.
Sie ließ ihren Säbel fallen, der doch immer nur ein halbes Kind abgeben konnte, und blickte zunächst scheu um sich. Die Thénardier stand bei ihrem Mann und flüsterte, Ponine und Zelma spielten mit der Katze, die Gäste soffen und grölten; niemand achtete auf sie. Es hieß keinen Augenblick verlieren. Sie kroch auf Händen und Füßen unter ihrem Tisch hervor, versicherte sich noch einmal, daß niemand aufpaßte, glitt dann rasch zu der Puppe hin und ergriff sie. Im nächsten Augenblick war sie wieder auf ihrem Platz; sie hatte sich so gesetzt, daß ihr Schatten auf die Puppe fiel. Das Vergnügen, mit einem so köstlichen Gegenstand zu spielen, war für sie offenbar so außerordentlich, daß sie sich mit höchstem Eifer daranmachte.
Niemand hatte sie bemerkt, nur der Fremde, der langsam sein dürftiges Mahl verzehrte, beobachtete sie.
Dieses Glück dauerte fast eine Viertelstunde. Aber so vorsichtig Cosette auch gewesen war, sie bemerkte nicht, daß ein Fuß der Puppe aus dem Schatten hervorstand und daß das Feuer des Kamins grell darauf fiel. Dieser hellbeleuchtete, rosige Fuß lenkte schließlich auch Azelmas Blicke auf sich, und sie sagte zu Eponine:
»Aufgepaßt!«
Verblüfft hielten die beiden Kleinen in ihrem Spiel inne. Cosette hatte gewagt, ihre Puppe anzugreifen.
Eponine stand auf und ging, ohne die Katze loszulassen, zu ihrer Mutter. Sie zupfte die Thénardier am Rock.
»Laß mich in Ruhe«, sagte diese. »Was willst du denn?«
»Sieh doch, Mutter!«
Und sie deutete auf Cosette.
Das Kind, von dem Genuß dieses seltenen Besitzes ganz berauscht, merkte nichts.
Das Gesicht der Thénardier nahm einen wütenden Ausdruck an. Ihr beleidigter Stolz war noch wilder als ihr Zorn. Cosette hatte sich unterstanden, den ungeheuerlichen Abstand nicht zu wahren, der sie von der Familie ihrer Brotherren trennte. Sie hatte die Puppe der Fräulein angetastet. Eine Zarin, die einen Muschik dabei ertappt, wie er das blaue Ordensband des Zarewitsch probiert, könnte nicht tiefer empört sein.
Heiser vor Wut schrie sie:
»Cosette!«
Cosette nahm die Puppe und legte sie mit einer Gebärde, in der Verzweiflung und Bewunderung lag, wieder auf den Boden. Dann aber tat sie, was sie diesen ganzen an Aufregungen so reichen Tag über nicht getan hatte, weder auf dem Wege durch den Wald, noch als sie das Geld verlor, noch als die Karbatsche drohte – sie brach in Tränen aus.
Der Fremde war aufgestanden.
»Was gibt’s denn?« fragte er.
»Sehen Sie es denn nicht?!« rief die Thénardier und deutete auf das Corpus delicti, das zu Cosettes Füßen lag.
»Was denn?«
»Dieses Bettelkind hat sich unterstanden, die Puppe meiner Kinder anzufassen.«
»Darum all der Lärm? Was ist denn dabei, wenn sie mit dieser Puppe spielt?«
»Mit ihren dreckigen Fingern hat sie sie angegriffen, mit ihren scheußlichen Händen«, schimpfte die Thénardier.
Cosette schluchzte nur noch lauter.
»Ruhig, du!« schrie die Thénardier.
Der Fremde trat zur Tür, öffnete sie und ging hinaus. Diese Abwesenheit des Beschützers der Kleinen machte die Thénardier sich zunutze, um Cosette unter dem Tisch einen Tritt zu versetzen, der das arme Kind laut aufschreien ließ.
Gleich darauf ging die Türe wieder auf, und der Fremde kehrte zurück; in den Händen hielt er die märchenhafte Puppe, von der wir schon gesprochen haben und die seit diesem Morgen das Entzücken aller Kinder des Dorfes war. Er stellte sie vor Cosette hin und sagte:
»Da, sie ist für dich.«
Cosette blickte auf; sie hatte den Fremden mit der Puppe wie eine aufgehende Sonne angestarrt, hörte sprachlos die unfaßlichen Worte »sie ist für dich« – und jetzt verkroch sie sich, zog sich ängstlich unter den Tisch zurück.
Sie weinte nicht mehr; vielleicht wagte sie kaum mehr zu atmen.
Die Thénardier, Eponine und Azelma waren starr. Sogar die Zecher waren aufmerksam geworden. Eine feierliche Stille herrschte in der Kaschemme.
Wieder begann die Thénardier nachzudenken. Wer mochte nur dieser Alte sein? Ein Armer? Ein Millionär? Oder eine Mischung aus beiden, ein Gauner?
Das Gesicht ihres Mannes nahm jenen Ausdruck an, der im Antlitz des Menschen die Vorherrschaft gewinnt, sobald sein tierischer Instinkt durchbricht. Der Kaschemmenwirt betrachtete bald die Puppe, bald den Fremden. Er schien zu wittern. Es dauerte nur eine Sekunde. Dann trat er zu seiner Frau und flüsterte:
»Das Zeug kostet mindestens dreißig Franken. Keine Dummheiten! Der Mann muß in Watte gewickelt werden.«
Plumpe Charaktere haben mit naiven gemeinsam, daß sie keine Übergänge kennen.
»Na, Cosette«, sagte die Thénardier in dem süßlichsten Ton, dessen sie fähig war, »willst du denn das Püppchen nicht nehmen?«
Endlich wagte Cosette sich aus ihrem Schlupfwinkel heraus.
»Kleinchen«, ermunterte sie die Thénardier zärtlich, »der Herr schenkt dir eine Puppe. Nimm sie doch, sie gehört dir.«
Cosette betrachtete das Wunderding fast mit Schrecken. Noch war ihr Gesicht mit Tränen benetzt, aber ihre Augen leuchteten jetzt auf wie der Himmel bei Sonnenaufgang. Was sie empfand, war nicht anders, als wenn man ihr unvermittelt gesagt hätte: Kleine, du bist die Königin von Frankreich.
Und doch schien sie zu befürchten, der Blitz müsse sie treffen, wenn sie nach dieser Puppe griff.
Endlich wagte sie sich näher und murmelte schüchtern:
»Darf ich?«
Der Fremde nickte Cosette zu und legte die Hand der Puppe in die ihre. Sofort zog sich das Kind zurück, als ob »die Dame« sie verbrennen müßte, und blickte verlegen zu Boden. Um aufrichtig zu sein, müssen wir sogar hinzufügen, daß sie dabei die Zunge aus dem Mund hängen ließ. Plötzlich griff sie nach der Puppe und sagte: