»Ich will sie Katherine nennen.«
Es sah bizarr genug aus, wie dieses Kind in elenden Lumpen nach der Puppe in rosa Musselin griff.
»Darf ich sie auf einen Stuhl setzen?« fragte sie.
»Doch, mein Kind«, antwortete die Thénardier.
Jetzt war es an Eponine und Azelma, neidische Blicke zu werfen. Cosette setzte Katherine auf einen Stuhl, hockte dann vor ihr auf dem Boden nieder und betrachtete sie in ehrfürchtigem Staunen.
»Spiel doch, Cosette«, sagte der Fremde.
»Ich spiele ja.«
Die Thénardier empfand es unerträglich, diese Szene weiter mit anzusehen. Darum bat sie den Fremden um die Erlaubnis, ihre Kinder und auch Cosette zu Bett zu schicken, »denn die Kleine hat sich heute sehr geplagt«, wie sie mütterlich hinzufügte.
Der Fremde hatte sich wieder an den Tisch gesetzt und versank in nachdenkliches Träumen. Die Zecher waren von ihm abgerückt und sangen nicht mehr. Aus der Ferne betrachteten sie ihn mit respektvoller Scheu. Dieser Sonderling, der so elend angezogen war, die Fünffrankenstücke aber so locker in der Tasche sitzen hatte, war gewiß eine unheimliche Erscheinung.
Stunden verstrichen. Die Mette war vorüber, der Nachtwächter hatte Schlafenszeit ausgerufen, die Zecher waren gegangen, und die Kneipe war geschlossen worden. Schon war das Feuer im Kamin erloschen, aber der Fremde saß noch immer in der gleichen Stellung an seinem Platz. Von Zeit zu Zeit wechselte er den Arm, auf den er sich stützte. Aber er hatte, seit Cosette nicht mehr da war, kein Wort gesprochen.
Die Thénardiers waren, sei es aus Höflichkeit, sei es aus Neugierde, in der Gaststube geblieben.
»Will er so die Nacht verbringen?« murrte die Thénardier. Als es zwei Uhr schlug, gab sie sich besiegt und sagte zu ihrem Gatten:
»Ich gehe schlafen. Tu du, was du willst.«
Der Gatte setzte sich an einen Tisch in der Ecke, zündete eine Kerze an und begann den »Courier Français« zu studieren.
Wieder verging eine gute Stunde. Der wackere Wirt hatte seine Zeitung bereits dreimal vom Datum bis zum Druckvermerk durchstudiert. Noch immer rührte sich der Fremde nicht.
Thénardier hüstelte, räusperte sich, schneuzte sich, knarrte mit seinem Stuhl; vergebens.
Er ist wohl eingeschlafen, dachte er.
Endlich nahm er seine Mütze ab, trat vorsichtig näher und fragte:
»Wollen der Herr sich nicht zur Ruhe begeben?«
Sich zur Ruhe begeben schien ihm vornehmer als schlafen gehen. Schlafen gehen klang so vertraulich, ja sogar familiär. Sich zur Ruhe begeben ist ein Luxus und setzt Respekt voraus. Es ist einer von jenen Ausdrücken, der die mystische Macht besitzt, sich am nächsten Tag auf der Rechnung geltend zu machen. Ein Zimmer, in das man schlafen geht, kostet zwanzig Sous, ein Zimmer, in das man sich zur Ruhe begibt, zwanzig Franken.
»Ach ja«, sagte der Fremde, »Sie haben recht. Wo ist Ihr Stall?«
»Ich werde den Herrn führen«, sagte Thénardier lächelnd.
Er nahm das Licht, der Fremde ergriff sein Bündel und seinen Stock; dann führte Thénardier ihn in ein Zimmer in der ersten Etage, das mit erstaunlichem Luxus eingerichtet war; die Möbel waren aus Mahagoni, das gewaltige Doppelbett von einem Himmel überdacht.
»Was soll das?« fragte der Reisende.
»Es ist unser Brautzimmer«, sagte der Wirt, »wir bewohnen es jetzt nicht. Ich vergebe es höchstens drei- oder viermal im Jahre.«
»Der Stall wäre mir ebenso recht gewesen«, erwiderte der Fremde brüsk. Doch schien Thénardier diese wenig verbindliche Äußerung zu überhören. Er zündete zwei neue Wachslichter an, die auf dem Kamin standen. Im Alkoven brannte ein lebhaftes Feuer.
Auf dem Kamin stand unter einer Glasglocke der Kopfputz einer Frau, Silberdraht und Orangenblüten.
»Was ist denn das?« fragte der Fremde.
»Der Brautkranz meiner Frau.«
Der Fremde betrachtete das Schaustück mit einem Blick, der zu sagen schien: Dieses Ungeheuer ist also einmal Jungfrau gewesen!
Übrigens log Thénardier. Als er dieses Haus gemietet hatte, um eine Herberge daraus zu machen, war dieses Zimmer schon so eingerichtet gewesen, er hatte es mit allen Möbeln und auch dem Brautschmuck gekauft, wobei er vielleicht dachte, dieser Schmuck würde seiner Gattin ein Air von zarter Anmut verleihen und dem ganzen Haus etwas von jener, wie es die Engländer nennen, Wohlanständigkeit geben.
Als der Gast sich umwandte, war der Wirt verschwunden. Thénardier hatte sich diskret zurückgezogen, ohne auch nur gute Nacht zu wünschen. Er wollte einen Gast nicht mit respektloser Herzlichkeit behandeln, dem er morgen eine halsabschneiderische Rechnung zu präsentieren gedachte.
Als der Gastwirt in sein Zimmer trat, fand er seine Frau bereits im Bett. Sie schlief noch nicht. Beim Geräusch seiner Schritte wandte sie sich um und sagte:
»Und daß du es gleich weißt, morgen schmeiß ich Cosette hinaus!«
»Soso«, antwortete Thénardier kalt. Weitere Reden wurden zwischen den beiden nicht ausgetauscht, und einige Minuten später war die Kerze ausgelöscht.
Der Fremde seinerseits setzte sich, nachdem der Wirt gegangen war, in einen Lehnstuhl und blieb eine Weile nachdenklich. Dann zog er seine Schuhe aus, nahm eine der beiden Kerzen, verlöschte die andere, öffnete die Tür und ging hinaus. Er kam durch den Korridor bis zur Treppe. Hier hörte er ein schwaches Geräusch, das wie der Atem eines Kindes klang. Diesem Geräusch folgte er und gelangte zu einem dreieckigen Verschlag, der unter den Stufen der Treppe zwischen alten Körben, zerbrochenem Geschirr, Spinnweben und Staub freigelassen war; wenn man einen zerschlissenen Sack voll Stroh ein Bett nennen will, so lag hier ein Bett, und darin schlief Cosette.
Er beugte sich über sie und betrachtete sie.
Sie schlief tief. Ihre Lumpen hatte sie nicht abgelegt. Im Winter schlief sie immer bekleidet, um weniger zu frieren.
Die Puppe, deren große glänzende Augen offenstanden und im Finstern leuchteten, hielt sie an sich gedrückt. Von Zeit zu Zeit stieß sie einen schweren Seufzer aus, als ob sie aufwachen wollte. Neben ihrem Bett stand nur einer ihrer Holzschuhe.
Eine offene Tür neben Cosettes Verschlag gab den Eintritt in ein ziemlich geräumiges Zimmer frei. Im Hintergrund sah man durch die Glastüre zwei kleine, weißüberzogene Bettchen. Hier schliefen Azelma und Eponine.
Der Fremde trat ein. Er bedachte, daß dieses Zimmer an den Schlafraum der Thénardier grenzen mochte und wollte sich eben zurückziehen, als sein Blick auf den Kamin fiel, einen dieser ungeheuerlichen Herbergskamine, in denen zumeist nur ein kleines Feuerchen brennt und die so kalt aussehen. In diesem war kein Feuer, nicht einmal eine Spur von Asche, aber etwas anderes zog die Aufmerksamkeit des Fremden auf sich: zwei kleine, niedliche Kinderschuhe von verschiedener Größe. Er erinnerte sich der uralten, reizenden Sitte, daß die Kinder am Weihnachtstage einen Schuh in den Kamin stellen, in den dann eine gute Fee ein Geschenk für sie legen soll. Eponine und Azelma hatten nicht versäumt, so zu tun, und hatten jede einen ihrer Schuhe in den Kamin gestellt.
Der Fremde beugte sich vor.
Die Fee, ihre Mutter, war schon dagewesen; in jedem der Schuhe funkelte ein neues Zehnsousstück.
Eben wollte der Fremde sich wieder zurückziehen, als er abseits, in einem dunklen Winkel des Kamins, einen anderen Gegenstand bemerkte. Es war ein schmutziger, grober Holzschuh. Cosette hatte in jenem rührenden Zutrauen der Kinder, das oft getäuscht, nie gänzlich entmutigt wird, auch ihre Pantine in den Kamin gestellt.
Wie süß und erhaben ist doch die Hoffnungsbereitschaft eines Kindes, das nur die Verzweiflung kennengelernt hat!
Der Holzschuh war leer.
Bevor der Fremde leise in sein Zimmer zurückkehrte, griff er in seine Westentasche, zog einen Louisdor hervor und steckte ihn in Cosettes Pantine.