Wie die Dämonen und Genien an gewissen Zeichen die Gegenwart eines übergeordneten Gottes erkennen, so begriff auch Thénardier, daß er es hier mit einem robusten Willen zu tun hatte. Schon gestern abend hatte er ihn beobachtet, keine Geste, keine Bewegung des Mannes im gelben Rock war ihm entgangen. Bevor der Unbekannte so deutlich seine Anteilnahme an Cosette bekundete, hatte Thénardier etwas geahnt. Mit Überraschung hatte er bemerkt, daß die Blicke des Alten immer wieder zu dem Kinde zurückkehrten. Wer war dieser Mensch? Warum kleidete er sich so schäbig, wenn er über so beträchtliche Geldmittel verfügte! Der Vater Cosettes konnte er nicht sein. Der Großvater? Warum hatte er sich dann nicht sofort vorgestellt? Wer ein Recht hat, macht es geltend. Dieser Mensch hatte offensichtlich kein Anrecht auf Cosette.
Thénardier verlor sich in vagen Vermutungen. Als er aber begriff, daß dieser Mann ein Interesse daran hatte, ungenannt zu bleiben, fühlte er sich stark; und als dann der Fremde so klar und unmißverständlich erklärte, was er zu tun gedenke, fühlte er sich wieder schwach. Darauf war er nicht gefaßt gewesen. Seine Vermutungen waren entkräftet. Er dachte eine Sekunde nach. Thénardier war einer von jenen Menschen, die eine Situation sofort überschauen. Dies war, dachte er, der Augenblick, um rasch vorzugehen. Wie alle großen Feldherren, demaskierte er im entscheidenden Augenblick seine Batterie.
»Fünfzehnhundert Franken«, sagte er.
Der Fremde zog ein altes Portefeuille aus schwarzem Leder aus der Tasche, dem er drei Banknoten entnahm. Er stützte seinen Daumen auf die Scheine und sagte:
»Jetzt lassen Sie Cosette kommen.«
Einen Augenblick später trat sie in die Gaststube. Der Fremde schnürte sein Bündel auf und entnahm ihm ein Wollkleid, eine Schürze, ein Jäckchen, einen Unterrock, Wollstrümpfe und Schuhe; eine vollständige Bekleidung für ein siebenjähriges Mädchen. Ganz in Schwarz.
»Nimm das, Kind, und zieh dich rasch an.«
Der Morgen graute bereits, als die Einwohner von Montfermeil, die eben ihre Türen öffneten, auf der Straße nach Paris einen armgekleideten Mann ausschreiten sahen, der ein kleines, in Trauer gekleidetes Mädchen an der Hand führte.
Da Cosette nicht mehr ihre Lumpen trug, erkannten viele sie nicht.
Oft verschlechtert sich, wer sich zu verbessern sucht
Gewohnheitsmäßig hatte die Thénardier ihrem Gatten freie Hand gelassen. Sie war auf große Dinge gefaßt. Als der Fremde mit Cosette fortgegangen war, ließ Thénardier eine gute Viertelstunde verstreichen, bevor er sie beiseite nahm und ihr die fünfzehnhundert Franken zeigte.
»Das ist alles?« fragte sie.
Seit ihrer Hochzeit war es das erstemal, daß sie eine Handlung ihres Herrn zu kritisieren wagte.
Der Schlag traf.
»Du hast recht«, sagte er, »ich bin ein Idiot. Gib mir meinen Hut.«
Er faltete die drei Banknoten zusammen, schob sie in die Tasche und eilte davon; aber er lief zunächst in der falschen Richtung, nach rechts. Einige Nachbarn, bei denen er sich erkundigte, brachten ihn auf die richtige Spur, denn die Lerche und ihr Begleiter waren auf dem Wege nach Livry gesehen worden. Er folgte diesem Hinweis und ging, vor sich hin sprechend, mit langen Schritten weiter.
Dieser Mensch ist unzweifelhaft eine Million in einem gelben Rock, murmelte er, und ich bin ein albernes Vieh. Erst hat er zwanzig Sous gegeben, dann fünf Franken, dann fünfzig, schließlich fünfzehnhundert, immer mit der gleichen Bereitwilligkeit. Er hätte auch fünfzehntausend gegeben. Ich werde ihn schon noch einholen.
Auch war es sonderbar, daß er für die Kleine bereits Kleider mitgebracht hatte. Sicher steckte da ein Geheimnis dahinter. Und solch ein Geheimnis läßt man sich nicht wieder entkommen, wenn man es einmal am Wickel hat. Die Geheimnisse der Reichen sind Schwämme von Gold, man braucht sie nur auszupressen.
Diese Erwägungen beschäftigten ihn, und er kam neuerlich zu seiner Schlußfolgerung: ich bin ein albernes Vieh.
Wenn man Montfermeil auf der Straße gegen Livry zu verläßt, hat man einen weiten Ausblick auf die Hochebene. Er hatte erwartet, daß er den Mann und die Kleine sehen würde, aber so gespannt er auch Ausschau hielt, er konnte nichts bemerken. Wieder suchte er Erkundigungen einzuholen, aber damit verlor er nur Zeit. Man sagte ihm, der Mann und das Kind hätten die Richtung nach den Wäldern um Gagny eingeschlagen. Also folgte er ihnen dahin.
Sie hatten einen Vorsprung, aber ein Kind geht langsam, und er lief schnell. Auch war ihm die Gegend vertraut.
Plötzlich blieb er stehen, schlug sich vor die Stirn, wie jemand, der die Hauptsache vergessen hat und halbenwegs wieder umkehren möchte.
»Ich hätte mein Gewehr mitnehmen müssen!« rief er.
Dann aber nach einem kurzen Zögern:
»Ach, inzwischen entwischen sie mir.«
Er machte sich wieder auf den Weg und lief, fast sicher, die beiden einzuholen, hastig weiter; wie ein Fuchs lief er, der eine Kette Birkhühner wittert.
Und wirklich, als er an den Teichen vorübergekommen war und die große Lichtung zur Rechten der Straße von Bellevue überquerte, bemerkte er hinter einem Strauch einen Hut, der ihn mit großen Erwartungen erfüllte. In der Tat, Cosette und der Unbekannte hatten sich hier niedergesetzt. Die Kleine war nicht zu sehen, aber der Kopf der Puppe ragte über dem Strauch hervor.
Thénardier täuschte sich nicht. Offenbar hatte der Mann hier Platz genommen, um Cosette ein wenig Rast zu gönnen. Im nächsten Augenblick stand der Wirt vor ihnen.
»Entschuldigen Sie, mein Herr«, rief er atemlos, »hier haben Sie Ihre fünfzehnhundert Franken wieder!«
Und er reichte dem Fremden die drei Banknoten.
»Was bedeutet das?« fragte der Alte.
»Das bedeutet, daß ich Cosette wiederhaben will«, antwortete Thénardier respektvoll. Cosette erzitterte und schmiegte sich an ihren Beschützer. Dieser sah Thénardier tief in die Augen und fragte gedehnt:
»Sie wollen Cosette wiederhaben?«
»Ja, mein Herr, ich will sie wiederhaben. Und ich will Ihnen auch sagen, wieso ich dazu komme. Ich habe nicht das Recht, sie Ihnen abzutreten. Ich bin ein Ehrenmann, verstehen Sie? Die Kleine gehört nicht mir, sie gehört ihrer Mutter. Ihre Mutter hat sie mir anvertraut, ich kann sie nur ihr wiedergeben. Sie werden sagen: die Mutter ist tot. Möglich. Aber auch in diesem Falle kann ich das Kind nur jemand geben, der mir einen schriftlichen Auftrag der Mutter vorzeigt, daß ich das Kind ihm aushändigen soll. Das ist klar.«
Wortlos zog der Fremde das Portefeuille heraus. Der Wirt war von freudigem Schreck durchschauert.
Soso, dachte er, da hätten wir ihn. Er will mich bestechen.
Bevor der Fremde sein Portefeuille öffnete, blickte er um sich. Kein Mensch war zu sehen. Erst nachdem er sich davon überzeugt hatte, klappte er das Portefeuille auf, zog aber nicht das erwartete Banknotenbündel heraus, sondern ein kleines Blatt Papier, das er entfaltete und dem Wirt hinhielt.
»Sie haben recht. Lesen Sie.«
Thénardier nahm das Blatt und las:
Montreuil sur Mer, 25. März 1823.
Herr Thénardier,
übergeben Sie Cosette dem Überbringer.
Die kleinen Restschulden werden Ihnen bezahlt werden.
Hochachtungsvoll
Fantine.
»Kennen Sie diese Unterschrift?« fragte der Fremde.
Es war Fantines Hand. Thénardier erkannte sie. Er konnte keinen Einwand erheben. Ein doppelter Ärger regte sich in ihm, der Ärger, die erhoffte Bestechungssumme zu verlieren, und der, geschlagen zu sein.
»Sie können das Blatt zu Ihrer Rechtfertigung behalten.«