Thénardier trat einen wohlgeordneten Rückzug an.
»Die Unterschrift ist ja ganz gut nachgeahmt«, murmelte er. »Gut, sei’s darum!«
Aber er wagte noch einen letzten verzweifelten Versuch.
»Mag es hingehen«, sagte er. »Sie sind ja wohl der Mann. Aber Sie müssen mir alle meine kleinen Auslagen ersetzen, man schuldet mir einen beträchtlichen Betrag.«
Der Fremde erhob sich und sagte, während er mit der Fingerspitze etwas Staub von seinem Ärmel fortschnellte:
»Herr Thénardier, im Januar schuldete Ihnen die Mutter hundertzwanzig Franken. Im Februar sandten Sie eine Rechnung über fünfhundert Franken. Sie erhielten im Februar dreihundert, Anfang März wieder dreihundert. Seither sind neun Monate verflossen, das macht, da fünfzehn Franken monatlich verabredet worden waren, hundertfünfunddreißig Franken. Da Sie damals hundert Franken zuviel erhalten haben, können Sie jetzt fünfunddreißig beanspruchen. Ich habe Ihnen fünfzehnhundert gegeben.«
Thénardier hatte das Gefühl eines Wolfes, der in die Falle gegangen ist. Wer ist dieser Teufelskerl? dachte er.
Und er tat, was jeder Wolf getan hätte, er zerrte an der Falle. Schon einmal hatte die Unverfrorenheit gesiegt.
»Herr Ohnenamen«, sagte er kurz entschlossen, und diesmal, ohne seinen höflichen Ton beizubehalten, »ich werde Cosette wieder an mich nehmen, wenn Sie mir nicht tausend Taler geben.«
Ruhig sagte der Fremde:
»Komm, Cosette.«
Er nahm Cosette an die Hand und hob seinen Stock auf, der noch am Boden lag.
Thénardier sah den starken Knüttel und bedachte, daß die Gegend einsam war. Er verstand, daß alle weitere Mühe unnütz sei, und kehrte um.
Nr. 9 430 taucht wieder auf, und Cosette zieht das große Los
Jean Valjean war nicht tot.
Als er ins Meer fiel (oder eigentlich, als er sich ins Meer fallen ließ), war er ohne Kette. Er schwamm bis an ein Schiff, das vor Anker lag, und kletterte in ein Boot, das ausgesetzt war. Dort verbarg er sich bis zum Abend. Mit Einbruch der Nacht warf er sich wieder in die Wogen und erreichte die Küste unweit von Cap Brun. Da er etwas Geld bei sich hatte, konnte er sich Kleider verschaffen. Ein Kaschemmenwirt in der Nähe von Balaguier trieb damals das einträgliche Geschäft, entsprungene Sträflinge zu bekleiden. Dann marschierte Jean Valjean, wie alle Verfolgten, die sich dem Gesetz entziehen müssen, auf unbegangenen Nebenwegen nach Paris. Sein erster Unterschlupf war Pradeaux, später kam er nach Beausset, Briançon, in die Hochalpen. Es war eine unstete, gewagte Flucht. Er erreichte Paris, und in Montfermeil haben wir ihn wiedergefunden.
Seine erste Sorge in Paris war es gewesen, für ein kleines Mädchen von sieben oder acht Jahren Trauerkleider zu besorgen und ein Quartier zu mieten. Dann war er nach Montfermeil gegangen. Man erinnert sich, daß er schon anläßlich seiner ersten Flucht eine geheimnisvolle Reise in jene Gegend unternommen hatte, mit der sich auch die Justizbehörden beschäftigten. Aber man hielt ihn ja für tot, und dieser Umstand begünstigte das Dunkel, das er um sich zu verbreiten strebte. In Paris war ihm auch ein Zeitungsblatt in die Hände gefallen, das die Nachricht von seinem Tode gebracht hatte. Das beruhigte ihn und brachte ihm fast den Frieden, als ob er wirklich gestorben wäre.
Noch am selben Abend, an dem Jean Valjean Cosette den Klauen der Thénardiers entrissen hatte, kam er nach Paris zurück. Bei einbrechender Nacht hielt er durch das Tor von Monteaux seinen Einzug. Hier nahm er eine Droschke, die ihn zu der Esplanade des Observatoriums brachte. Dort entließ er sie wieder, bezahlte den Kutscher, nahm Cosette an die Hand, und die beiden marschierten durch eine Reihe dunkler Straßen zum Boulevard de l’Hôpital.
Drittes Buch
Das Haus Gorbeau
Das Nest des Uhus und der Lerche
Das Haus auf dem Boulevard de l’Hôpital, das die Briefträger nur nach der Nummer fünfzig bis zweiundfünfzig kannten, war bei den Einwohnern des traurigen Vorstadtquartiers Marché-aux-Cheveaux unter dem Namen Haus Gorbeau bekannt, und damit hatte es folgende Bewandtnis:
Um 1770 waren in Paris, am Châtelet, zwei königliche Prokuratoren tätig gewesen, deren einer Corbeau, der andere Renard hieß – Rabe und Fuchs; eine Fügung, die losen Mäulern Gelegenheit gab, Lafontaines Fabel scherzhaft auf sie anzuwenden. Den Sammlern lustiger Anekdoten ist nicht unbekannt, daß die beiden Würdenträger sich an Ludwig XV. mit der Bitte um Abänderung ihres Namens wandten, und tatsächlich wurde dem Raben Corbeau gestattet, sich fortan Gorbeau zu schreiben, während Renard, minder glücklich, nur die Erlaubnis erhielt, ein P vor seinen Namen zu setzen, so daß er, peinlich genug, den Namen Prenard tragen mußte.
Nach der lokalen Tradition war Meister Gorbeau der Erbauer und Eigentümer jenes geräumigen, öden Hauses auf dem Boulevard de l’Hôpital, vor dem Jean Valjean jetzt stehenblieb. Wie ein scheuer Vogel hatte er diesen entlegenen Platz gewählt, um hier sein Nest zu bauen.
Er griff in seine Westentasche, zog einen Schlüssel hervor, schloß die Türe auf und stieg, nachdem er sorgfältig wieder abgesperrt hatte, die Treppe hinauf. Cosette trug er noch immer auf dem Arm.
Auf dem Treppenabsatz angelangt, zog er einen anderen Schlüssel hervor und öffnete eine Türe. Das Zimmer, das er betrat, glich eher einer Werkstätte und war ziemlich geräumig; eine Matratze lag auf dem Boden. Das übrige Mobiliar bestand aus einem Tisch und einigen Stühlen. Ein eiserner Ofen glühte im Winkel. Der Widerschein einer Straßenlaterne beleuchtete spärlich die dürftige Einrichtung. Im Hintergrund, in einer Art Verschlag, stand ein Gurtbett. Jean Valjean trug das Kind dahin und legte es nieder, ohne daß es aufwachte.
Er machte Feuer und zündete eine Kerze an, die auf dem Tisch bereitstand. Dann begann er, Cosette mit einem Blick voll Entzücken und innigster Zärtlichkeit zu betrachten. Die Kleine schlief in jener ungetrübten Vertrauensseligkeit, die nur der höchsten Kraft und der äußersten Schwäche möglich ist, ohne zu wissen, wo sie sich befand.
Er beugte sich über sie und küßte ihre Hand.
Es war schon heller Tag, als das Kind erwachte. Das fahle Licht einer Dezembermorgensonne fiel durch das Fensterkreuz und zog lange Streifen über den Plafond. Plötzlich polterte eine schwerbeladene Fuhre an dem Hause vorbei und erschütterte wie ein Sturm die Grundfesten des Gebäudes.
»Ja, Frau!« rief Cosette und fuhr hoch, »ich bin schon da!«
Und schon war sie aus dem Bett gesprungen, tastete, während ihre schlafschweren Augen noch halb geschlossen waren, an der Wand.
»Mein Gott, mein Besen!« jammerte sie.
Jetzt öffnete sie die Augen ganz und blickte in das lächelnde Gesicht Jean Valjeans.
»Ach, richtig!« sagte sie. »Guten Tag, mein Herr.«
Kinder machen sich rasch mit Freude und Glück vertraut, denn Freude und Glück ist ihre zweite Natur.
Cosette bemerkte Katherine zu Füßen ihres Bettes, nahm sie auf und begann Jean Valjean auszufragen. Wo sie sei und ob Paris wirklich so groß sei, und ob Madame Thénardier bestimmt nicht hierher käme. Und plötzlich rief sie aus:
»Wie hübsch es hier ist!«
In Wirklichkeit war es ein recht ungemütlicher Aufenthalt – aber sie fühlte sich frei.
»Soll ich nicht auskehren?« fragte sie.
»Du sollst spielen«, sagte Jean Valjean.
Beobachtungen der Wirtin
Jean Valjean gebrauchte die Vorsicht, niemals bei Tage auszugehen. Erst in der Dämmerung wagte er einen Spaziergang von ein oder zwei Stunden, zuweilen allein, oft mit Cosette; er bevorzugte dann die entlegensten Seitenalleen der Boulevards und trat erst nach Einbruch der Nacht in eine Kirche ein. Am liebsten besuchte er die des heiligen Medardus, die am nächsten lag. Wenn er Cosette nicht mitnahm, blieb sie bei der Alten, der Verwalterin des Hauses, von der Valjean das Quartier gemietet hatte. Doch zog es Cosette vor, mit Valjean spazierenzugehen. Sogar einem vertraulichen Stündchen mit Katherine entsagte sie gern zugunsten eines Ausflugs.