Es erwies sich, daß Cosette von heiterer Natur war.
Die Alte führte die Wirtschaft, kochte und besorgte die Einkäufe.
Man lebte einfach, doch wurde der Kamin nie kalt, wie es wohl bei den Allerärmsten geschehen mag. An dem Mobiliar änderte Jean Valjean nichts, doch ließ er die Glastüre, die zu Cosettes Verschlag führte, durch eine Holztüre verschließen.
Er trug noch immer seinen gelben Rock, seine schwarze Kniehose und seinen alten Rock. Auf der Straße hielt man ihn für einen Bettler. Zuweilen geschah es, daß mildtätige Frauen ihm einen Sou in die Hand drückten. Jean Valjean nahm die Münze an und verneigte sich tief. Oder es ereignete sich, daß er selbst einem Bettler begegnete; dann hielt er zuerst fürsorglich Umschau, ob niemand ihn sehe, trat dann zu dem Armen und drückte ihm rasch eine Münze, oft sogar ein Silberstück in die Hand. Daraus entstanden unangenehme Folgerungen. Man begann ihn in der Gegend den Bettler, der Almosen gibt, zu nennen.
Die alte Vermieterin, eine mißgünstige und mürrische, schwerhörige Person, beobachtete Jean Valjean aufmerksam, ohne daß er es bemerkte. Ihr schlechtes Gehör hatte zur Folge, daß sie zur Geschwätzigkeit neigte. Sie besaß noch zwei Zähne aus ihrer besseren Vergangenheit, einen im Oberkiefer, einen im Unterkiefer, und diese beiden pflegte sie gegeneinanderzupressen. Ursprünglich hatte sie Cosette auszufragen versucht, aber nur wenig herausbekommen, da die Kleine nur anzugeben wußte, sie sei aus Montfermeil. Eines Morgens aber bemerkte die Spionin, daß Jean Valjean auf sonderbare Weise sich in dem unbewohnten Teil des Hauses zu schaffen machte. Mit dem Schritt einer alten Katze folgte sie ihm und konnte, ohne selbst bemerkt zu werden, durch einen Türschlitz beobachten, wie er, offenbar aus Vorsicht, mit dem Rücken gegen die Tür stehend, ein Etui aus der Tasche zog, diesem Nadel und Zwirn entnahm und den Schoß seines Rockes aufzutrennen begann; dann nahm er ein gelbliches Papier, das er entfaltete, aus dem Versteck. Mit Schrecken erkannte die Alte einen Tausendfrankenschein. Es war wohl der zweite oder dritte, den sie in ihrem Leben zu sehen bekam. Außer sich vor Erregung lief sie davon.
Kurz nachher kam Jean Valjean zu ihr und bat sie, diesen Tausendfrankenschein zu wechseln; er habe, wie er sagte, gestern abend seine halbjährlichen Zinsen erhalten. Wo nur? dachte die Alte – ist er doch erst um sechs Uhr ausgegangen, und um diese Stunde halten die Kassen der Staatsbank doch gewiß nicht offen.
Die Alte wechselte den Schein, hielt aber nicht reinen Mund. Diese Banknote, reichlich kommentiert und vervielfältigt, gab den Gevatterinnen aus der Rue des Vignes-Saint-Marcel Anlaß zu erregten Diskussionen.
An einem der folgenden Tage trug es sich zu, daß Jean Valjean in Hemdsärmeln auf dem Korridor Holz sägte. Die Alte war gerade im Zimmer und räumte auf. Sie benützte die Gelegenheit, näherte sich dem Rock Jean Valjeans, der an einem Nagel hing, und untersuchte ihn. Die Naht war wieder vernäht. Die wackere Frau betastete das Kleidungsstück und glaubte in den Schößen und Taillen Papierbündel zu fühlen. Offenbar wieder Tausendfrankenscheine!
Überdies bemerkte sie, daß noch sonst allerlei in den Taschen steckte. Da waren nicht nur das Nähzeug, das sie schon gesehen hatte, sondern auch eine dicke Brieftasche, ein sehr großes Messer und – verdächtig genug – einige Perücken in verschiedenen Farben. Es war, als ob in jeder Rocktasche eine Maskierung für bestimmte, unvorhergesehene Fälle vorbereitet wäre.
Ein Fünffrankenstück rollt lärmend über den Boden
Bei Sankt Medardus gab es einen Bettler, der auf dem Randstein eines zugeschütteten Brunnens zu hocken pflegte und dem Jean Valjean oft ein Almosen zusteckte. Nie ging er an ihm vorbei, ohne ihm einige Sous zu reichen. Zuweilen sprach er sogar mit ihm. Andere Bettler, die diesem offenbar mißgünstig waren, behaupteten, er sei ein Polizeispitzel. Tatsache ist, daß er ein ehemaliger Kirchendiener und fünfundsiebzig Jahre alt war; fast nie hörte er auf, Gebete vor sich hin zu murmeln.
Eines Abends kam Jean Valjean dort vorbei. Er hatte Cosette nicht bei sich. Unter einer Laterne, die eben angezündet worden war, bemerkte er den Bettler an seinem gewohnten Platz. Wie immer, betete er, tief vorgebeugt, vor sich hin. Jean Valjean trat zu ihm und bot ihm sein gewöhnliches Almosen. Plötzlich blickte der Bettler auf, sah Jean Valjean scharf ins Gesicht und beugte sich unverzüglich wieder vor. Diese blitzhaft schnelle Bewegung genügte, um Jean Valjean erzittern zu lassen. Ihm war, als ob er im Schein der Laterne nicht das schicksalsergebene, gutmütige Gesicht des alten Kirchendieners, sondern ein furchtbares, nur zu bekanntes Gesicht gesehen hätte. Ihm war zumute wie einem Manne, der sich unversehens einem Tiger gegenüberstehen sieht. Erschrocken, fast zu Stein erstarrt, fuhr er zurück; er wagte weder zu atmen noch zu sprechen, konnte weder bleiben noch enteilen. Der Bettler hielt den Kopf wieder vorgebeugt und schien nicht weiter auf ihn zu achten. Ein Instinkt, vielleicht der geheimnisvolle Trieb der Selbsterhaltung, hielt Jean Valjean davon ab, ein Wort zu sprechen. Der Bettler hatte die gleiche Figur, die gleiche Haltung, dieselben Lumpen wie immer.
Ich bin verrückt, dachte Jean Valjean. Ich träume. Es ist unmöglich.
Tief beeindruckt ging er nach Hause.
Kaum wagte er sich selbst einzubekennen, daß er glaubte, Javert erkannt zu haben.
Als er nachts darüber nachdachte, bedauerte er, daß er den Mann nicht noch einmal angesprochen und dadurch gezwungen hatte, ein zweites Mal aufzublicken.
Am nächsten Tage kehrte er bei einbrechender Dunkelheit wieder an jenen Platz zurück. Der Bettler war zur Stelle.
»Guten Tag, Mann«, sagte Jean Valjean entschlossen und reichte ihm einen Sou.
Der Bettler blickte auf und sagte mit kläglicher Stimme:
»Danke, guter Herr!«
Es war der alte Kirchendiener.
Jean Valjean fühlte sich vollkommen beruhigt. Er begann zu lachen.
»Wo, zum Teufel, glaubte ich nur diesen Javert zu sehen?« fragte er sich, »habe ich jetzt erst klare Augen?«
Und er dachte nicht weiter darüber nach.
Einige Tage später, an einem Abend – es mochte acht Uhr sein – saß er in seinem Zimmer und ließ Cosette mit lauter Stimme buchstabieren; da hörte er die Haustüre gehen. Das war sonderbar. Die Alte, die auch im Hause wohnte, pflegte bei Einbruch der Dunkelheit zu Bett zu gehen, um Licht zu sparen.
Jean Valjean gab Cosette ein Zeichen, sie solle schweigen. Er hörte, wie jemand die Treppe hinaufstieg. Es konnte immerhin die Alte sein, die, von einem Unwohlsein betroffen, vielleicht zum Apotheker gegangen war. Er lauschte. Es waren schwere Tritte, die von einem Manne herzurühren schienen; aber die Alte trug plumpe Schuhe, und der Gang alter Frauen ist dem der Männer nicht unähnlich.
Jean Valjean blies die Kerze aus. Er hieß Cosette ins Bett gehen und sagte leise: »Geh ganz still ins Bett, Kleine.« Während er sie auf die Stirn küßte, wurden die Schritte unhörbar. Jean Valjean blieb regungslos, den Rücken gegen die Tür, auf dem Stuhl sitzen, in der Dunkelheit hielt er den Atem an. Nach einiger Zeit wandte er sich, da er nichts hörte, geräuschlos um, und als sein Blick die Tür traf, sah er im Schlüsselloch Licht. Der Schein glich einem unheimlichen Stern in der Finsternis der Mauer. Offenbar stand da jemand mit der Kerze in der Hand hinter der Tür und horchte.
Wieder vergingen Minuten. Jetzt verschwand das Licht. Doch waren keine Schritte zu vernehmen. Offenbar hatte der Unbekannte seine Schuhe ausgezogen.
Jean Valjean legte sich angekleidet auf sein Bett und tat die ganze Nacht lang kein Auge zu.