Als er gegen Morgen einzuschlummern begann, weckte ihn das Knarren einer Tür, die am Ende des Korridors zu einer Mansarde führte; wieder hörte er dieselben Schritte wie gestern abend. Sie näherten sich. Er sprang aus dem Bett und legte sein Auge an das Schlüsselloch, das ziemlich groß war; gewiß würde er im Vorübergehen den Fremden, der die Nacht in diesem Hause zugebracht und an der Türe gehorcht hatte, sehen können.
Es war wirklich ein Mann. Diesmal ging er, ohne stehenzubleiben, an Jean Valjeans Tür vorüber. Im Korridor war es noch zu dunkel, man konnte das Gesicht nicht unterscheiden. Als der Mann aber auf den Treppenabsatz trat, fiel ein Lichtstrahl auf ihn und zeichnete scharf die Umrisse seiner Gestalt ab; Jean Valjean konnte den Rücken ganz überschauen. Der Fremde war hochgewachsen, trug einen langen Rock und einen starken Knüttel unter dem Arm. Der Stiernacken erinnerte an Javert.
Jean Valjean hätte versuchen können, ihm durch das Fenster nachzusehen, aber dazu hätte er es öffnen müssen, und das wagte er nicht.
Offenbar war der Fremde mit einem Schlüssel in das Haus gekommen, als ob es sein eigenes wäre. Wer hatte ihm den Schlüssel gegeben? Und was bedeutete das?
Als die Alte um sieben Uhr morgens kam, um aufzuräumen, warf ihr Jean Valjean einen durchdringenden Blick zu, aber er fragte nichts. An der Frau war nichts Ungewöhnliches zu bemerken.
Während sie fegte, fragte sie:
»Hat der Herr nicht heute nacht jemand ins Haus gehen gehört?«
Für dieses Alter und in jener Stadtgegend ist acht Uhr abends späte Nacht.
»Richtig, ja«, antwortete er ganz unbefangen. »Wer war es denn?«
»Unser neuer Mieter.«
»Wie heißt er denn?«
»Ich kann es nicht einmal genau sagen. Dumont oder Daumont. Ein gewöhnlicher Name.«
»Und was ist dieser Herr Dumont?«
Die Alte sah ihn tückisch an und antwortete:
»Rentner, wie Sie.«
Vielleicht meinte sie nichts damit, aber Jean Valjean mißtraute ihr. Als die Alte gegangen war, nahm er aus dem Schrank eine Hundertfrankenrolle und steckte sie in die Tasche. Obwohl er dabei recht vorsichtig zu Werke ging, fiel eine Münze zur Erde und rollte laut über den Boden.
Als es dunkelte, stieg er die Treppe hinab und hielt nach beiden Seiten auf dem Boulevard Ausschau. Er sah niemand. Offenbar war die Straße vollständig verödet. Allerdings konnte sich jemand hinter den Bäumen verborgen halten.
Er stieg die Treppe wieder hinauf.
»Komm, Cosette«, sagte er.
Er nahm sie bei der Hand und führte sie fort.
Viertes Buch
Jagd im Dunkeln, stumme Meute
Strategischer Zickzack
Jean Valjean verließ alsbald den Boulevard und bog in eine Seitenstraße ein; sooft er nur konnte, wählte er Seitenwege, ging auch manchmal ein Stück zurück, um sich zu überzeugen, daß er nicht verfolgt werde.
Dieses Manöver ist dem Hirsch, dem die Jäger auf den Fersen sind, eigentümlich. Zumal auf Strecken, wo die Fährte sich tief in den Boden einprägt, hat es den Vorzug, die Jäger und die Hunde zu täuschen. Man nennt diesen Schlich in der Jägersprache den »falschen Rückweg«. Es war eine Vollmondnacht. Jean Valjean fühlte sich durch diesen Umstand begünstigt. Der Mond stand noch tief am Horizont und schnitt scharfe Schatten in die Straßenfassade. Jean Valjean konnte im Dunkel an den Wänden entlang gleiten, zugleich aber die hellerleuchtete Gegenfront scharf beobachten. Vielleicht bedachte er nicht zur Genüge, daß ihm dermaßen die dunkle Seite entging. Als er aber in dem Straßengewirr rings um die Rue de Poliveau untergetaucht war, glaubte er gewiß zu sein, daß er nicht verfolgt werde.
Cosette lief neben ihm her, ohne Fragen zu stellen. Die Leiden, die sie in ihren ersten sechs Lebensjahren ausgestanden hatte, hatten zur Folge gehabt, daß sie einen passiven Charakter entwickelte. Sie hatte sich – ein Umstand, auf den wir noch des öfteren zurückkommen werden –, ohne es recht selbst zu bemerken, an die Schrullen ihres Beschützers und an die Launen des Schicksals gewöhnt. Auch fühlte sie sich in Sicherheit, wenn er nur bei ihr war.
Jean Valjean wußte ebensowenig wie Cosette, wohin dieser Weg ihn führte. Er legte sein Schicksal in Gottes Hand wie sie das ihre in seine. Ihm war, als ob auch er geführt werde wie sie; er glaubte ein unsichtbares Wesen zu fühlen, das ihn lenkte. Er hatte keinen festen Plan, keine klar umrissene Absicht. In diesem Augenblick war er noch nicht einmal fest überzeugt, daß er es mit Javert zu tun hatte, und wenn dieser Fremde auch wirklich Javert war, ob Javert ihn erkannt habe. War er denn nicht verkleidet? Glaubte man ihn nicht tot?
Allerdings, seit einigen Tagen geschahen Dinge, die bedenklich schienen. Mehr war nicht nötig. Er hatte sich entschlossen, nie wieder in das Haus Gorbeau zurückzukehren. Wie ein Tier, das aus seinem Versteck aufgescheucht ist, suchte er zunächst ein Loch, in dem er sich verbergen könnte, und dachte, er würde später ein dauerhaftes Versteck finden.
Jean Valjean durchquerte im Zickzack das Quartier Mouffetard, das schon im Dunkel lag, als ob dort noch die Polizeiordnung des Mittelalters gälte. In strategischer Vorsicht kreuzte er zu mehreren Malen die Rue Zensier und die Rue Copeau, dann die Rue du Battoir-Saint-Victor und die Rue du Puits-l’Hermite. Es gibt in dieser Gegend Herbergen, aber er wollte in keine eintreten, denn er fand keine passende. Doch war er überzeugt, daß man, falls man ihm nachgegangen sein sollte, seine Spur längst verloren habe.
Als es elf Uhr schlug, ging er gerade die Rue de Pontoise entlang und kam an dem Polizeikommissariat vorbei, das in Nummer 14 untergebracht ist. Einige Sekunden später hieß ihn ein Instinkt sich umwenden. Im Schein der Laterne, die an dem Kommissariat angebracht war, konnte er drei Männer erkennen, die in diesem Augenblick der Reihe nach an dem Bureau vorbeikamen. Einer der drei trat in den Hauseingang. Der Mann, der an der Spitze marschierte, schien Valjean höchst verdächtig.
»Komm, Kind«, sagte er zu Cosette und beeilte sich, aus der Rue de Pontoise hinauszukommen. Er wählte wieder einen Umweg, umging die Passage des Patriarches, die zu dieser Nachtstunde schon gesperrt war, durchmaß die Rue de l’Epée de Bois und die Rue de l’Arbalète; endlich verschwand er in der Rue des Postes.
Es gibt dort an der Stelle, wo heute das Kolleg Rollin ist, an der Abzweigung der Rue Neuve Ste.-Geneviève eine Wegkreuzung. Der Mond schien grell herab. Jean Valjean trat in ein Haustor und bedachte, daß er die drei Leute, falls sie ihn noch verfolgen sollten, hier sehr gut erkennen würde, wenn sie auf den hellbeleuchteten Platz träten.
In der Tat vergingen keine drei Minuten, bis die Männer schon erschienen. Es waren jetzt ihrer vier, alles hochgewachsene Leute in langen braunen Röcken, mit runden Hüten und Knütteln in der Faust. Ihre Größe war nicht minder unheimlich wie die Art, in der sie sich im Dunkeln vorwärts bewegten. Man hätte sie für vier Gespenster halten können, die sich als Bürger verkleidet hatten.
Inmitten der Wegkreuzung blieben sie stehen und schienen zu beraten. Sie sahen unentschlossen aus. Jener, der sie zu führen schien, deutete mit der Rechten nach der Richtung, in der Jean Valjean weitergegangen war; ein anderer schien nach der entgegengesetzten Seite gehen zu wollen. In dem Augenblick, als der erstere sich umwandte, fiel das Mondlicht voll auf sein Gesicht. Jean Valjean erkannte deutlich Javert.
Glücklicherweise fahren auf der Austerlitzer Brücke Wagen
Jetzt war für Jean Valjean alles klar. Für jene Männer allerdings dauerte die Ungewißheit noch an. Er machte sich also ihr Zögern zunutze, denn was jene an Zeit verloren, konnte er als Gewinn buchen. Er trat aus dem Haustor, in dem er sich verborgen hatte, und eilte in Richtung Jardin des Plantes weiter. Cosette begann zu ermüden, er hob sie auf und trug sie. Nächtliche Spaziergänger waren nicht zu sehen, die Laternen hatte man wegen des Mondscheins nicht angezündet.