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An der Rue de la Clef und dem Jardin des Plantes vorbei kam er zum Quai. Hier wandte er sich um. Weit und breit kein Mensch. Auch in den Seitenstraßen war niemand zu entdecken. Er atmete auf.

Jetzt ging er auf den Pont d’Austerlitz zu. Damals gab es dort noch einen Wächter, der Mautgeld erhob. Er näherte sich dem Mann und reichte ihm einen Sou.

»Zwei Sous!« sagte der Invalide, der den Dienst versah, »Sie tragen ein Kind, das gehen kann. Sie müssen für zwei zahlen.«

Es war ärgerlich, daß sein Übergang über die Brücke Gegenstand einer Erörterung geworden war. Valjean bezahlte. Lieber wäre es ihm gewesen, wenn seine Flucht glatter vonstatten gegangen wäre.

Gleichzeitig mit ihm fuhr ein großer Lastwagen zum rechten Ufer hinüber. Das war günstig. Er konnte im Schatten der Fuhre gehen.

Mitten auf der Brücke begehrte Cosette, deren Füße erstarrt waren, zu gehen. Er setzte sie zu Boden und nahm sie an die Hand.

Sobald er die Brücke überschritten hatte, bemerkte er zur Rechten einige Lagerplätze. Um dahin zu gelangen, mußte er einen breiten, hell vom Mond beleuchteten Raum überschreiten. Er zögerte nicht. Seine Verfolger waren offenbar einer falschen Spur gefolgt. Jean Valjean glaubte sich außer Gefahr. Er wurde gesucht, aber nicht verfolgt. Eine kleine Gasse, die Rue du Chemin-Vert-Saint-Antoine, zog sich zwischen hohen Mauern dahin. Ein dunkler, enger Weg, wie für ihn geschaffen. Bevor er eintrat, blickte er sich um. Er konnte von seinem Standplatz aus die Austerlitzer Brücke in ihrer ganzen Länge überschauen. Eben tauchten am anderen Ende der Brücke vier Schatten auf. Sie kamen vom Jardin des Plantes herüber und wollten offenbar das rechte Ufer erreichen.

Vier Schatten – vier Männer! Jean Valjean erschauerte. Die Spürhunde hatten das Wild wieder aufgescheucht. Aber noch blieb eine Hoffnung. Vielleicht hatten die vier Männer ihn nicht gesehen, als er mit Cosette den hellen Platz überschritten hatte. Er brauchte nur in die kleine Straße einzubiegen, bis zu den Lagerplätzen vorzustoßen und zwischen den Gemüsefeldern und Schutthalden zu verschwinden.

Ihm schien, man könne sich dieser kleinen stillen Straße anvertrauen.

Umhertasten

Nach ungefähr dreihundert Schritten kam er an eine Stelle, wo die Straße sich gabelte. Er hatte vor sich gewissermaßen die beiden Zweige eines Y.

Wohin sollte er sich wenden? Er zögerte nicht, sondern bog rechts ab.

Warum?

Links mußte er in die Vorstadt gelangen, also in bewohntes Gebiet, rechts aber auf unbebautes Land, in eine verlassene Öde. Doch gingen die beiden nicht mehr besonders schnell. Cosettes kurze Schritte verzögerten Jean Valjeans Gang. Er mußte sie wieder aufnehmen. Sie legte den Kopf an seine Schulter und schwieg.

Von Zeit zu Zeit kehrte er sich um und hielt Ausschau. Immer war er bestrebt, sich auf der dunklen Seite der Straße zu halten. Als er sich die ersten Male umwandte, sah er nichts; ringsum war tiefes Schweigen. Schon fühlte er sich etwas sicherer. Plötzlich bemerkte er, daß sich nicht weit hinter ihm etwas bewegte. Jetzt begann er zu laufen, hoffte, eine Querstraße zu erreichen und dort die Spur fälschen zu können.

Er erreichte eine Mauer. Doch war der Weg nicht vollends versperrt. Die Mauer schloß eine Querstraße ab, wieder mußte Jean Valjean sich entscheiden, ob er nach rechts oder nach links weitergehen sollte.

Er sah nach rechts. Hier lief die Straße zwischen Schuppen und Scheunen weiter und endete in einer Sackgasse. Der Hintergrund, eine hohe weiße Mauer, war deutlich zu erkennen.

Dann sah er nach links. In dieser Richtung war die Straße offen. In einem Abstand von etwa zweihundert Schritten ging sie in eine andere über. Vielleicht war dort das Heil zu finden.

In dem Augenblick, als er eben weitergehen wollte, bemerkte er an der nächsten Ecke in dieser Straße etwas Regungsloses, eine Art schwarze Statue.

Das war unverkennbar ein Mann, ein Posten, den man ausgestellt hatte, um ihm den Weg zu sperren.

Jean Valjean fuhr zurück.

Gleichzeitig wurde ein Geräusch hörbar. Jean Valjean wagte einen Blick um die Straßenecke und bemerkte sieben oder acht Soldaten, die in der Rue Polonceau vordrangen. Er konnte ihre Bajonette aufblitzen sehen.

An ihrer Spitze erkannte er Javert. Sie marschierten langsam und vorsichtig. Oft blieben sie stehen. Wahrscheinlich durchsuchten sie alle Mauerwinkel und Haustore.

In der Art, wie sie sich bewegten, konnten sie eine Viertelstunde brauchen, um an den Ort zu gelangen, an dem Jean Valjean sich jetzt befand. Es war ein furchtbarer Augenblick, nur einige Minuten trennten Jean Valjean von dem Abgrund, der sich zum drittenmal vor ihm auftat. Und diesmal drohte ihm nicht nur das Bagno, diesmal würde man ihm Cosette entreißen; er würde zu einem Leben verurteilt werden, dem das Grab vorzuziehen war.

So stand ihm nur ein Ausweg offen.

Jean Valjean war in gewissem Sinne ein Doppelmensch; zur Hälfte hegte er die Gedanken eines Heiligen, zur anderen Hälfte besaß er die furchtbaren Fähigkeiten eines Sträflings. Nach Bedarf konnte er seine Persönlichkeit wechseln.

Bei seinen zahlreichen Ausbrüchen aus dem Bagno war er, wie der Leser sich wohl erinnert, ein Meister in der Kunst geworden, sich ohne Leiter aus reiner Muskelkraft an Mauern hochzuarbeiten, indem er nur die schwachen Unebenheiten des Bauwerks als Griffe und Stützen benützte. Er maß die Mauer vor sich mit den Augen und bemerkte, daß sie von einer Linde überragt wurde. Die Mauer mochte etwa achtzehn Fuß hoch sein. Es war nur schwer, Cosette da hinauf zu bekommen. Sie konnte nicht klettern. Sie im Stich lassen? Er dachte nicht daran. Sie mitnehmen war unmöglich. Ein Mann braucht seine ganze Kraft, um allein einen solchen Weg zurückzulegen. Die geringste Last mußte das Gleichgewicht verschieben und seinen Sturz zur Folge haben.

Ja, wenn er ein Seil hätte! Jean Valjean hatte keines. Wie kommt man um Mitternacht in der Rue Polonceau zu einem Seil? Gewiß hätte Jean Valjean, wenn er ein Königreich besessen hätte, in diesem Augenblick ein Königreich für ein Seil gegeben.

Aber gerade die kritischsten Situationen erleuchten uns zuweilen blitzhaft, sei es, um uns zu blenden, sei es, uns den richtigen Weg finden zu lassen. Der verzweifelte Blick Jean Valjeans fiel auf die Laterne in der Sackgasse Genrot.

Es gab damals noch keine Gaslaternen in den Straßen von Paris. Bei Einbruch der Nacht wurden Lampen in kurzen Abständen aufgestellt, die an Seilen aus der Straßenmitte herabgelassen wurden.

Mit dem Mut des Entscheidungskampfs stürzte sich Jean Valjean in die Sackgasse, stieß den kleinen Schrank auf, in dem das Seil verknotet war, schnitt es mit dem Messer durch und war im nächsten Augenblick wieder bei Cosette. Jetzt hatte er sein Seil. Zugleich aber begann die vorgerückte Stunde, der unheimliche Ort und die Dunkelheit, endlich auch Jean Valjeans seltsames Gehaben Cosette zu beunruhigen. Jedes andere kleine Kind hätte wohl längst schon zu schreien begonnen. Sie beschränkte sich darauf, Jean Valjean am Schoß seines Rockes zu zupfen. Die Schritte der anmarschierenden Patrouille waren jetzt deutlich zu hören.

»Vater«, sagte sie leise, »mir ist so bang. Wer kommt denn dort?«

»Still! Es ist die Thénardier! Sag kein Wort, laß mich nur machen. Wenn du schreist oder weinst, erwischt sie dich. Sie will dich holen.«

Gleich darauf begann er ohne Hast, aber auch ohne Zeitverlust mit jener seltsamen Präzision, die solchen Augenblicken eigentümlich ist, sein Halstuch abzulösen; er band es um Cosettes Achseln und trug Sorge, daß das Kind nicht gequetscht werde. Dann band er das andere Ende des Tuches an das Seil, nahm das Gegenstück des Seils zwischen die Zähne, zog seine Schuhe und Strümpfe ab, warf sie über die Mauer und begann mit der Sicherheit eines Mannes, der eine Leiter ersteigt, die Mauer zu erklimmen. Nach einer knappen halben Minute kniete er auf der Mauerbrüstung.