Wortlos sah ihm Cosette zu. Jean Valjeans Rat und der Name der Thénardier hatten sie zu Eis erstarren lassen.
Jetzt hörte sie ihn leisen rufen:
»Lehne dich an die Mauer!«
Sie gehorchte.
»Sag kein Wort und fürchte dich nicht!«
Gleich darauf fühlte sie, daß sie hochgehoben wurde. Bevor sie begriff, was mit ihr geschah, war sie auf dem Gipfel der Mauer. Jean Valjean ergriff sie, nahm sie auf den Rücken, legte sich platt auf den Bauch und kroch an der Brüstung entlang. Wie er erraten hatte, stieß die Mauer hier an ein Gebäude, dessen Dach schräg abfiel und die Linde fast streifte.
Die Situation war für ihn sehr günstig. Gegen den Garten zu reichte das Dach viel tiefer hinab als straßenwärts.
Im selben Augenblick ließ ihn Lärm auf der Straße erraten, daß die Patrouille angekommen war.
»Sucht die Sackgasse ab!« befahl Javert. »Die Rue Droit-Mur und die kleine Rue Picpus sind bewacht. Ich bürge dafür, daß er in der Sackgasse ist.«
Die Soldaten machten sich auf die Suche.
Jean Valjean aber ließ sich an dem Dach hinabgleiten, bekam die Linde zu fassen, kletterte ein letztes Stück und sprang zu Boden. Cosette hatte aus Mut oder Angst nicht einmal laut zu atmen gewagt. Ihre Hände waren ein wenig zerschunden.
Anfang eines Rätsels
Jean Valjean befand sich in einem geräumigen, recht eigenartigen Garten; einem jener traurigen Gärten, die für den Winter und die Nacht bestimmt zu sein scheinen. Er war rechteckig und endete in einer Pappelallee; auch in allen Winkeln standen Bäume, die Mitte aber war schattenlos; hier konnte man einen vereinzelten sehr hohen Baum, einige verkrüppelte Obstbäume, Beete und eine alte Senkgrube erkennen. Hier und da waren von Moos bewachsene Steinbänke zu sehen.
Zur Seite hatte Jean Valjean das Gebäude, von dessen Dach er abgestiegen war; an der Mauer stand eine Statue, deren arg verstümmeltes Gesicht in der Dunkelheit kaum erkennbar war.
Das Haus glich eher einer Ruine, doch schienen einzelne Räume noch als Schuppen benützt zu werden.
Das Hauptgebäude in der Rue Droit-Mur machte um die Ecke der Rue Picpus einen Bogen und bildete somit einen rechten Winkel zum Garten. Alle Fenster waren vergittert; nirgends war Licht zu sehen. Auch war von einem anderen Gebäude nichts zu bemerken. Der Garten verlor sich in Finsternis und Nacht. Nur ganz undeutlich waren Mauerstücke zu erkennen – vielleicht die niedrigen Dächer der Rue Polonceau.
Nichts Wilderes, Einsameres konnte man sich vorstellen als diesen Garten. Daß sich hier niemand aufhielt, war zu dieser Stunde weniger erstaunlich, aber es war kaum anzunehmen, daß auch zur Mittagszeit hier jemand einen angenehmen Aufenthalt finden könnte.
Jean Valjeans erste Sorge war, seine Schuhe wieder zu suchen und wieder anzuziehen. Dann brachte er Cosette in den Schuppen. Wer eben seinen Verfolgern entschlüpft ist, fühlt sich nirgends sicher genug. Cosette, die noch immer an die Thénardier dachte, wünschte gleichfalls nichts Besseres als ein möglichst sicheres Versteck.
Zuerst hörte man von draußen Lärm und Rufe. Nach einer Viertelstunde aber schien sich die Truppe der Verfolger zu entfernen. Jean Valjean atmete noch immer kaum. Er hatte sanft seine Hand auf Cosettes Mund gelegt.
Plötzlich wurde aus der tiefen Stille des Gebäudes ein anderes Geräusch hörbar, ein Gesang, der ebenso himmlisch und göttlich klang wie eben erst der Straßenlärm entsetzlich. Es war eine Hymne, ein Gebet, das in die schweigende Nacht aufstieg; Valjean glaubte Frauenstimmen zu erkennen, aber Stimmen, die zugleich von Jungfrauen und von Kindern herzurühren schienen. Unverkennbar klangen sie aus dem Gebäude neben dem Garten herüber. Es war, als ob nach der Hexenmusik der Dämonen ein Chor der Engel erklingen sollte.
Cosette und Jean Valjean knieten nieder.
Sie wußten nicht, wo sie sich befanden, aber sie fühlten, der Mann und das Kind, der Büßer und die Unschuldige, daß sie niederknien mußten.
Der Gesang klang wie übernatürliche Musik in einem unbewohnten Gebäude. Solange er anhielt, dachte Jean Valjean an nichts anderes. Erst als er verstummte, schien er zu erwachen. Wie lange das gedauert haben mochte, hätte er nicht angeben können. Die Stunden der Verzückung sind Sekunden.
Alles versank wieder in tiefe Stille; weder auf der Straße noch im Garten irgendein Geräusch.
Noch immer das Rätsel
Der Morgenwind setzte ein. Jean Valjean schloß daraus, daß es gegen ein oder zwei Uhr sein mochte. Cosette war still. Da sie neben ihm saß und den Kopf an seine Brust gelehnt hatte, dachte er, sie sei eingeschlafen. Er beugte sich über sie und sah sie an. Ihre Augen standen weit offen, sie schien nachzudenken.
Immer noch zitterte sie.
»Möchtest du schlafen?«
»Mir ist so kalt!« antwortete sie. »Ist sie denn noch immer da?«
»Wer?«
»Frau Thénardier.«
Jean Valjean hatte längst vergessen, welchen Mittels er sich bedient hatte, um Cosette schweigen zu machen.
»Ach, die ist fort! Fürchte dich nicht weiter.«
Das Kind seufzte, als ob ihm eine große Last von der Brust genommen würde.
Der Boden war feucht, der Schuppen nach allen Seiten offen, der Wind von Augenblick zu Augenblick frostiger. Jetzt zog Jean Valjean seinen Rock aus und hüllte Cosette darein.
»Ist dir jetzt weniger kalt?«
»Ja, Vater.«
»Gut, dann warte einen Augenblick. Ich komme gleich wieder.«
Er trat aus der Ruine und begann an dem Hauptgebäude entlang zu gehen, um einen besseren Unterschlupf ausfindig zu machen. Er stieß auf Türen, aber sie waren versperrt. Die Fenster im Erdgeschoß waren mit Eisengittern versehen.
Als er den inneren Winkel des Gebäudes erreichte, bemerkte er einige Bogenfenster, die schwach erleuchtet waren. Er hob sich auf die Zehenspitzen und sah hindurch. Das Fenster führte zu einem großen, mit mächtigen Steinfliesen gepflasterten Saal, der durch Arkaden und Säulen geteilt schien. Das Licht kam von einer kleinen Lampe, die in einer Ecke brannte. Nichts in dem Saal rührte sich. Doch glaubte er, wenn er seine Augen schärfer anstrengte, auf dem Boden etwas zu bemerken, einen Gegenstand, der mit einem Laken bedeckt war und die Form eines menschlichen Körpers andeutete. Diese Gestalt lag mit dem Gesicht gegen den Boden, die Arme kreuzweise ausgestreckt, reglos wie ein Leichnam. Etwas neben ihr sah wie eine Schlange aus, offenbar ein Strick, den jene unheimliche Gestalt um den Hals trug.
In dem ganzen Saal schwebten die Schauer des Halbdunkels.
Jean Valjean hat später oft gesagt, daß ihm in seinem Leben manches Schauerliche widerfahren sei, nie aber habe etwas sein Blut so sehr zu Eis erstarren lassen wie diese rätselhafte Gestalt, die im Dunkel der Nacht ein unbekanntes Mysterium vollzog. Furchtbar war ihm die Vorstellung, dies sei eine Tote, schrecklicher noch aber der Gedanke, daß dort ein lebendiges Wesen liege.
Er hatte immerhin den Mut, die Stirn gegen die Fensterscheibe zu pressen und zu beobachten, ob die Gestalt sich bewegte. Ihm schien eine beträchtliche Zeit verflossen, als er noch immer nicht die leiseste Bewegung bemerkt hatte. Plötzlich packte ihn ein unaussprechliches Grauen, und er entfloh. Ohne sich umzuschauen, lief er in den Schuppen. Wenn er sich umsähe, würde er – davon war er überzeugt – die Gestalt hochaufgerichtet, mit den Armen schlenkernd, einherschreiten sehen.
Keuchend erreichte er die Ruine. Seine Knie schlotterten, Schweiß perlte von seinem Körper.
Wo befand er sich? Wer hätte sich je vorstellen mögen, daß es inmitten von Paris eine derartige Grabstätte gab? Und was bedeutete dieses seltsame Haus, dieser Bau voll nächtlicher Geheimnisse, der in der Dunkelheit verängstigte Seelen mit Engelsstimmen an sich lockte und ihnen, wenn sie näher traten, die furchtbare Vision einer Gruft vorhielt? Und doch war dies ein Haus, das auf der Straße eine gewöhnliche Nummer führte! Kein Traum …