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Fauchelevent nahm die kräftigen Hände Jean Valjeans in seine faltigen, zitternden.

»Verfügen Sie über mich!«

Eine unaussprechliche Freude schien sein Gesicht zu verklären.

»Was soll ich tun?« fragte er wieder.

»Das will ich Ihnen gleich sagen. Haben Sie eine eigene Stube?«

»Ich habe eine eigene Baracke da hinter der Ruine des alten Klosters, in einem Winkel, in den kein Mensch kommt. Dort sind drei Zimmer.«

Diese Baracke war in der Tat so gut hinter der Ruine versteckt, daß auch Jean Valjean sie nicht gesehen hatte.

»Gut«, sagte er, »jetzt habe ich Sie um zwei Dinge zu bitten.«

»Und zwar, Herr Bürgermeister?«

»Erstens sagen Sie niemand, was Sie von mir wissen. Zweitens suchen Sie nicht mehr von mir zu erfahren.«

»Wie Sie wollen. Ich weiß, daß Sie nichts Unanständiges tun können und immer ein guter Mann waren. Übrigens haben Sie mich ja hierhergebracht. Ich stehe Ihnen ganz zur Verfügung.«

»Abgemacht. Und jetzt kommen Sie mit mir. Wir wollen das Kind holen.«

»Was, ein Kind ist auch noch da?«

Aber er fragte nicht weiter, sondern folgte Jean Valjean wie ein Hund seinem Herrn.

Noch war keine halbe Stunde vergangen, als Cosette, deren Wangen sich an einem Kaminfeuer wieder gerötet hatten, bereits im Bett des alten Gärtners schlief. Jean Valjean hatte sein Halstuch und seinen Rock wieder an sich genommen; Fauchelevent hatte jetzt den Riemen mit dem Glöckchen abgeschnallt, und die beiden Männer saßen an dem Tisch, auf dem der Gärtner ein Stück Käse, ein Brot, eine Flasche Wein und zwei Gläser hingestellt hatte. Und jetzt sagte der Alte, indem er Jean Valjean die Hand aufs Knie legte:

»Ach, Vater Madeleine, Sie haben mich gar nicht erkannt! Erst retten Sie den Leuten das Leben und dann vergessen Sie sie? Sie sind ja undankbar.«

Wie die Beute Javert entging

Die Ereignisse, die wir eben von der Kehrseite gesehen haben, waren unter den denkbar einfachsten Umständen zustande gekommen.

Als Jean Valjean in jener Nacht, da ihn Javert am Bett der toten Fantine verhaftet hatte, aus dem Stadtgefängnis von Montreuil sur Mer entsprang, hatte die Polizei vermutet, der Flüchtling habe sich nach Paris gewandt. Paris ist ein Malstrom, in dem alles sich verliert, jeder in der Unmenge der anderen verschwindet. Kein Wald kann einen Menschen so gut verbergen wie die Menschenmenge von Paris. Alle Flüchtlinge wissen das. Gern tauchen Sie in Paris unter, aber auch die Polizei ist sich darüber im klaren und sucht, was anderswo entschlüpft ist, hier. In Paris suchte sie auch den ehemaligen Bürgermeister von Montreuil sur Mer. Javert wurde nach Paris zitiert, um an den Nachforschungen teilzunehmen, und wirklich trug er dazu bei, daß Jean Valjean wieder ergriffen wurde. Sein Eifer und seine Klugheit fielen bei dieser Gelegenheit Herrn Chabouillet, dem Sekretär der Präfektur auf, der ja auch schon früher Javerts Protektor gewesen war und der den Polizeiinspektor aus Montreuil sur Mer zur Pariser Polizei versetzte. Und hier machte sich Javert auf mannigfache und achtbare Weise (wenn solch ein Wort in einer solchen Stellung am Platze ist) nützlich.

Er dachte nicht mehr an Jean Valjean, so wie die Jagdhunde den Wolf von gestern vergessen, um dem von heute nachzuspüren, als er, der sonst niemals Journale las, im Dezember 1823 ein Blatt in die Hände bekam; als begeisterter Monarchist wollte er Einzelheiten über den triumphalen Einzug der Königlichen Hoheit, des Generalissimus, in Bayonne erfahren. Während er den Artikel las, sprang ihm der Name Jean Valjean, der weiter unten auf der gleichen Seite genannt wurde, in die Augen. Die Zeitung meldete, daß der Sträfling Jean Valjean ums Leben gekommen sei, und der Bericht war so bestimmt formuliert, daß Javert nicht zweifeln konnte. Er begnügte sich zu sagen: Na, eine Sorge weniger. Dann warf er das Blatt weg und dachte nicht weiter daran.

Einige Zeit später ging von der Präfektur des Departements Seine-et-Oise ein Bericht über die Entführung eines Kindes ein, das, wie gesagt wurde, unter eigenartigen Umständen aus der Gemeinde Montfermeil verschleppt worden war. Eine Kleine von sieben oder acht Jahren, die von ihrer Mutter einem Wirt in jenem Ort anvertraut worden war, schien, wie es in dem Bericht hieß, von einem Unbekannten verschleppt worden zu sein. Dieses Kind hörte auf den Namen Cosette und war die Tochter einer gewissen Fantine, die in einem Spital gestorben sein solle. Einzelheiten hierüber fehlten. Dieser Bericht kam Javert unter die Augen, und er wurde nachdenklich.

Der Name Fantine war ihm wohlbekannt. Er erinnerte sich, daß Jean Valjean ihn lächerlicherweise um eine Frist von drei Tagen gebeten hatte, weil er vorgeblich das Kind jenes Geschöpfs abholen wollte. Er entsann sich auch, daß Jean Valjean in Paris verhaftet worden war, als er eben in die Postkutsche steigen wollte, die nach Montfermeil fährt. Gewisse Anzeichen hatten sogar darauf hingedeutet, daß er damals schon zum zweitenmal in jenen Wagen gestiegen war und daß er sich schon früher in Montfermeil herumgetrieben hatte. Was er dort zu schaffen hatte? Man konnte es nicht erraten. Jetzt aber begriff Javert. Dort war Fantines Kind. Jean Valjean suchte es. Und dieses Kind war von einem Unbekannten gestohlen? Wer konnte dieser Unbekannte sein? Jean Valjean? Der war doch tot!

Immerhin fuhr Javert, ohne jemand etwas zu verraten, nach Montfermeil. Er hoffte große Aufklärungen zu erhalten, aber er fand nichts.

In den ersten Tagen hatten die Thénardiers aus Ärger allerlei erzählt. Das Verschwinden der Lerche hatte im Dorfe Aufsehen erregt. Verschiedene Versionen tauchten auf, schließlich hieß es, das Kind sei gestohlen worden. So war jener Polizeibericht zustande gekommen. Nachdem aber die erste Wut verraucht war, hatte Thénardier mit seinem scharfen Instinkt herausgefühlt, daß es gar nicht in seinem Interesse lag, die Behörden auf sich aufmerksam zu machen; wenn diese »Entführung« Cosettes erst Staub aufwirbelte, konnte es nicht ausbleiben, daß viele fragwürdige Geschäfte der Thénardiers in den Blickwinkel der Justiz gerückt wurden. Der Uhu kann es nicht leiden, daß man ihm eine Kerze hinstellt. Was sollte er auch sagen, wenn man ihn fragte, warum er die fünfzehnhundert Franken angenommen hatte? Er änderte also seine Taktik, verbot seiner Frau, über die Sache zu sprechen, und tat verwundert, wenn von dem gestohlenen Kind geredet wurde. Er begriff einfach nicht, was man von ihm wollte. Gewiß war er traurig gewesen, als man ihm eines Tages die liebe Kleine fortgeschleppt hatte, gewiß hätte er sie aus Zärtlichkeit noch gerne ein paar Tage bei sich gehabt, aber schließlich war es doch das Natürlichste von der Welt, daß ihr Großvater – und der war es ja gewesen – sie abgeholt hatte.

Bis zu dieser Version war der Bericht gereift, als Javert nach Montfermeil kam. Der Großvater ließ Jean Valjean verblassen.

Wohl stellte Javert einige Fragen, um zu prüfen, wie weit Thénardiers Bericht stichhaltig war. Wer war denn dieser Großvater, und wie hieß er?

»Ein begüterter Bauer. Ich habe seinen Paß gesehen. Wenn ich mich nicht irre, hieß er Guillaume Lambert.«

Lambert ist ein Name, der gutmütig und beruhigend wirkt. Javert fuhr nach Paris zurück.

Jean Valjean ist tot, dachte er, und ich bin mit der Nase gegen eine Mauer gestoßen.

Er war eben dabei, diese Geschichte wieder zu vergessen, als er im März 1824 von einer absonderlichen Persönlichkeit hörte, die in der Pfarrei Saint Médard wohnte und »der Bettler, der Almosen verteilt« genannt wurde. Dieser Mensch sei, wurde gesagt, ein Rentner, dessen Name man nicht genau anzugeben wisse und der mit einem kleinen, achtjährigen Mädchen zusammenlebe, von dem auch nicht mehr bekannt sei, als daß es aus Montfermeil stamme.

Montfermeil!

Javert stutzte.

Ein alter Bettler, der Spitzeldienste leistete, ein ehemaliger Kirchendiener, dem jener Unbekannte Almosen zusteckte, gab noch weitere Einzelheiten. Dieser Rentner sei ein ganz absonderlicher Mensch, gehe nur des Abends aus, spreche mit niemand außer einigen Bettlern und lasse keinen an sich herankommen. Er trage einen schauerlichen alten, gelben Rock, der einige Millionen wert sei, denn der Alte habe ihn ganz und gar mit Tausendfrankennoten ausgestopft.