Dieser Bericht reizte Javerts Neugierde. Um diesen Rentner aus nächster Nähe zu sehen, ohne ihn kopfscheu zu machen, entlieh er eines Tages diesem Kirchendiener seine Kleider und hockte sich an dem Platz, den sonst der alte Spitzel einnahm, Gebete vor sich hinnäselnd und spionierend, nieder.
Das verdächtige Individuum näherte sich wirklich dem also verkleideten Javert und bot ihm ein Almosen. Javert hob den Kopf und war, als er Jean Valjean zu erkennen glaubte, nicht weniger außer sich als jener selbst.
Immerhin war es möglich, daß die Dunkelheit ihn getäuscht hatte. Schließlich war Jean Valjeans Tod offiziell gemeldet. Javert zweifelte ernsthaft. Als gewissenhafter Mann wollte er niemand am Kragen packen, bevor er seiner Sache nicht sicher war.
Er ging dem Manne also bis zum Gorbeauschen Haus nach und versuchte »die Alte«, die Vermieterin, zum Sprechen zu bringen. Das war nicht schwer. Die Alte bestätigte die Sache mit den verborgenen Millionen und erzählte ihm die Geschichte von dem Tausendfrankenschein. Sie hatte ihn gesehen, ja, sie hatte ihn mit ihren eigenen Händen berührt! Javert mietete ein Zimmer in dem Haus. Am selben Abend hielt er seinen Einzug. Er lauschte an der Tür des geheimnisvollen Mieters, weil er hoffte, ihn am Klang seiner Stimme wiederzuerkennen, aber Jean Valjean hatte den Kerzenschimmer durch das Schlüsselloch bemerkt und bewahrte Stillschweigen. Am nächsten Tage machte sich Jean Valjean davon. Aber der Lärm des Fünffrankenstückes, das zu Boden gefallen war, hatte die Alte aufmerksam gemacht, die sofort auf den Gedanken kam, ihr Mieter wolle ausrücken, und Javert schleunigst davon in Kenntnis setzte. Als Jean Valjean abends fortging, erwartete ihn Javert bereits mit zwei anderen Leuten hinter den Bäumen des Boulevards.
Er hatte auf der Präfektur angegeben, daß er eine Verhaftung vornehmen wollte, hatte aber den Namen des Individuums nicht genannt, das er zu greifen hoffte. Den hielt er geheim, und dazu bewogen ihn drei Gründe. Erstens konnte die geringste Indiskretion Jean Valjean alarmieren; zweitens bedeutete einen alten entsprungenen Sträfling, der früher zu den gefährlichsten Verbrechern gezählt worden war und jetzt für tot galt, wieder einzubringen, einen glänzenden Erfolg, den die Pariser Polizisten gewiß einem Neuling aus der Provinz, wie Javert, nicht gönnen würden; er mußte also befürchten, daß man ihm den Galeerensträfling wegschnappen würde; drittens und letztens war Javert ein Künstler. Er liebte das Unvorhergesehene und haßte die Erfolge, deren Reiz durch vorherige Ankündigung herabgemindert ist. Gern arbeitete er seine Meisterwerke im Dunklen aus und enthüllte sie dann mit einer einzigen Gebärde.
So war Javert Jean Valjean von Baum zu Baum, von Straßenecke zu Straßenecke gefolgt und hatte ihn keinen Augenblick lang aus der Sicht verloren; auch als Jean Valjean sich in Sicherheit wiegte, hatte Javerts Auge auf ihm geruht. Warum verhaftete Javert Valjean nicht?
Weil er noch immer zweifelte.
Man muß in Betracht ziehen, daß die Polizei in jener Zeit keinen guten Stand hatte; die liberale Presse sah ihr scharf auf die Finger. Einige willkürliche Verhaftungen, um die in den Zeitungen ein großes Aufheben gemacht worden war, waren sogar in der Kammer erörtert worden, und die Präfektur war verschüchtert. Ein Attentat auf die persönliche Freiheit war kein Scherz. Die Agenten fürchteten sehr, sich zu vergreifen, denn im Ernstfalle hielt der Präfekt sich an sie. Ein Irrtum konnte die Dienstentlassung bedeuten. Man stelle sich nur die Wirkung einer kurzen Nachricht, die durch zwanzig Blätter läuft und folgendermaßen lautet, vor:
»Gestern wurde ein bejahrter Mann, Großvater, ein ehrenwerter Rentner mit weißen Haaren, der sein achtjähriges Enkelkind spazierenführte, verhaftet und als entsprungener Galeerensträfling in der Polizeidirektion eingeliefert.«
Wenn wir also wiederholen, daß Javert seiner Sache noch nicht ganz sicher war, so wird begreiflich, daß die Stimme des Gewissens, verbunden mit der des warnenden Präfekten, ihre Wirkung tun mußte.
Jean Valjean zeigte ihm den Rücken und marschierte durch die Finsternis. Seine traurige Gemütsverfassung, seine Unruhe, die Angst, der Umstand, daß er obdachlos durch die Nacht wanken mußte, und gar noch die Notwendigkeit, seine Gangart dem des Kindes anzupassen, alles das verursachte, ohne sein Wissen, eine derartige Veränderung in Jean Valjeans ganzer Haltung und verlieh ihm etwas so Greisenhaftes, daß selbst die Polizei, selbst ein Javert unsicher werden konnte und wurde. Dazu kam, daß man nicht allzu nahe an die Verfolgten herangehen durfte, schließlich die Erklärung des Thénardier, der ihn den wirklichen Großvater der Kleinen genannt hatte, und die amtliche Bestätigung des Todes im Bagno.
Einmal verfiel er darauf, einfach an Valjean heranzutreten und sich seine Papiere zeigen zu lassen. Wenn jener Mann aber nicht Jean Valjean war, zugleich aber auch nicht der brave alte Rentner, sondern irgendein anderer Gauner, der womöglich mit irgendwelchen Pariser Verbrecherbanden in dunkler Verbindung stand, vielleicht sogar das Haupt einer gefährlichen Bande –? vielleicht hatte er Vertraute, Komplizen, nicht nur einen Unterschlupf, der ihm offenstand?
Die Umwege, die der Unbekannte machte, schienen allerdings darauf hinzudeuten, daß man es hier nicht mit der Arglosigkeit in Person zu tun habe. Aber sein Opfer vorzeitig festnehmen, hieß das nicht den Braten vom Feuer nehmen, bevor er gar war? Was konnte denn passieren, wenn man wartete? Javert war seiner sicher genug, um ein neuerliches Entschlüpfen nicht zu befürchten.
Er ging also hinter ihm her, und tausend Fragen bestürmten sein Gehirn. Als aber der Verfolgte in der Rue de Pontoise an einer hellerleuchteten Schenke vorüberkam, sah Javert ihm ins Gesicht und erkannte Jean Valjean endgültig. Es gibt auf dieser Welt zwei Geschöpfe, die so zittern können: die Mutter, die ihr Kind wiederfindet, und der Tiger, der seine Beute sieht. Auch Javert erschauerte.
Sobald er endgültig wußte, daß er es mit dem furchtbaren Galeerensträfling zu tun hatte, bedachte er auch, daß er nur zwei Leute bei sich hatte, und forderte darum in dem Kommissariat in der Rue de Pontoise Verstärkung an. Wer einen Dornenstock ergreifen will, muß sich mit guten Handschuhen versehen.
Dieser Aufenthalt und die Beratung am Kreuzweg Rollin hätten Javert bald seine Spur verlieren lassen. Rasch aber erriet er, daß es Valjeans erstes Bestreben sein mußte, den Fluß zwischen sich und seine Verfolger zu bringen. Sein sicherer Instinkt führte ihn geradewegs zur Austerlitzer Brücke. Eine einfache Anfrage an den Mautwächter klärte ihn vollständig auf.
So erreichte der Polizist die Brücke rechtzeitig, um Jean Valjean mit Cosette den hellerleuchteten Platz am anderen Ufer überqueren zu sehen. Er bemerkte, daß die beiden in die Rue du Chemin-Vert-Saint-Antoine einbogen. Da fiel ihm ein, daß die Sackgasse Genrot am anderen Ende dieser Straße nur den Ausgang zur Rue Droit-Mur offenläßt. Er versicherte sich also dieser Ausbruchsstelle und sandte eiligst auf einem Umwege einen der Agenten dorthin. Eine Patrouille, die zum Arsenal zurückmarschierte, kam ihm in den Weg, er verlangte ihre Unterstützung. Bei solchen Unternehmungen sind Soldaten die besten Trümpfe, die man ausspielen kann. Auch ist es ein altes Prinzip, daß man auf der Jagd nach dem wilden Eber die Geschicklichkeit des Jägers mit der Kraft der Spürhunde verbindet.
Als Javert die Situation soweit geklärt hatte und wußte, daß sein Opfer rechts in eine Sackgasse geraten, links auf den ausgestellten Posten stoßen mußte, bewilligte er sich eine Prise Tabak.
Und jetzt begann er zu spielen. Das war für ihn ein höllischer und doch köstlicher Augenblick. Er ließ sein Opfer vor sich herlaufen, wußte, daß er es in Händen hielt, wollte aber den Augenblick der Verhaftung soweit als möglich hinausschieben. Er brauchte ja nur zuzupacken. An einen Widerstand des Verfolgten war in Anbetracht der Patrouille nicht zu denken, so energisch, stark und vom Mut der Verzweiflung beflügelt Jean Valjean auch sein mochte.