Als aber Javert, der unterwegs alle Winkel der Gasse wie die Taschen eines Diebes durchsucht hatte, in die Mitte des ausgeworfenen Netzes kam, fand er die Fliege nicht. Man stelle sich seine Wut vor!
Er fragte seinen Posten in der Rue Droit-Mur, aber der war, ohne sich zu rühren, an seinem Platze geblieben und hatte niemand vorbeikommen gesehen.
Nun, gewiß hat Napoléon in Rußland, Alexander in Indien, Caesar in Afrika, Cyrus im Scythenlande Fehler begangen. Auch Javert durfte es tun. Wer ist vollkommen auf dieser Welt?
Attila hat zwischen Orient und Okzident geschwankt, Hannibal in Capua die Entscheidungsstunde versäumt, Danton ist in Arcis-sur-Aube eingeschlafen.
Wie dem auch sei, in dem Augenblick, als Javert begriff, daß Jean Valjean ihm entschlüpft sei, verlor er nicht den Kopf. Er wußte nur zu gut, daß der alte Sträfling nicht weit sein konnte, stellte daher Posten auf und organisierte die Überwachung des Quartiers. Das erste, was ihm auffiel, war das abgeschnittene Laternenseil. Das war ein wertvoller Fingerzeig, der ihn allerdings irreführte, weil er seine Aufmerksamkeit auf das Sackgäßchen Genrot ablenkte. Es gibt in dieser Sackgasse ziemlich niedrige Mauern, hinter denen Gärten liegen. Jean Valjean mochte sich dahin gewandt haben.
Gewiß hätte Valjean, wäre er auch nur einen Augenblick früher in der Sackgasse gewesen, einen solchen Versuch unternommen und wäre verloren gewesen. Javert durchsuchte die Gärten so gründlich, daß er eine vermißte Stecknadel gefunden hätte.
Bei Tagesanbruch ließ er zwei tüchtige Leute als Beobachter zurück und begab sich, zutiefst beschämt, von einem Verbrecher irregeführt worden zu sein, zur Präfektur.
Fünftes Buch
Die Friedhöfe nehmen, was man ihnen gibt
Wie man in ein Kloster kommt
Jean Valjean begriff, daß er und Cosette verloren waren, wenn sie nach Paris zurückkehrten. Da ein glücklicher Wind ihn hierher verschlagen hatte, in diesem Kloster verborgen, durfte er nicht daran denken, es wieder zu verlassen. Für einen Unglücklichen in seiner Lage war dieses Kloster zugleich der gefährlichste und doch auch der sicherste Aufenthalt; der gefährlichste, denn kein Mann durfte hier eindringen, bei Gefahr, entdeckt und der Polizei ausgeliefert zu werden; der sicherste, denn hier würde man ihn gewiß nicht vermuten. Und wer sollte auch Eintritt erhalten, um ihn hier zu suchen? Sich an einem unmöglichen Ort aufhalten bedeutete das Heil.
Auch Fauchelevent konnte in dieser Nacht keinen Schlaf finden. Viele Gedanken beschäftigten ihn. Das einzige, was er verstand, war, daß er nichts begriff. Wie konnte Herr Madeleine über diese Mauern gekommen sein? Man übersteigt solche Mauern nicht. Und ganz gewiß nicht mit einem Kind in den Armen! Und was war das für ein Kind? Woher kamen die beiden?
Seit Fauchelevent im Kloster war, hatte er aus Montreuil sur Mer keine Nachrichten mehr erhalten. Vater Madeleine machte ein Gesicht, das einen Frager nicht gerade ermunterte, und überdies dachte sich Fauchelevent: Man soll die Heiligen nicht ausfragen. Aus einigen Worten, die Jean Valjean entschlüpft waren, glaubte der Gärtner entnehmen zu dürfen, Herr Madeleine sei vielleicht infolge der allgemeinen wirtschaftlichen Schwierigkeiten zusammengebrochen und befinde sich auf der Flucht vor seinen Gläubigern. Oder er habe sich in einer politischen Sache kompromittiert und wünsche sich darum zu verbergen. Und das gefiel Fauchelevent recht gut, da er, wie die meisten Bauern in Nordfrankreich, im Grunde seines Herzens Bonapartist war.
Aber wie sollte er ihn hier im Kloster erhalten? Das war die Frage. Fauchelevent schreckte vor diesem schier wahnsinnigen Unterfangen nicht zurück; dieser arme picardische Bauer, den nur seine Ergebenheit, sein guter Wille und eine gewisse Bauernschlauheit unterstützten, machte sich daran, die Schwierigkeiten zu überwinden, die ihm die strenge Regel des heiligen Benediktus in den Weg legte.
Bei Tagesanbruch tat Vater Fauchelevent, der alles reiflich erwogen hatte, die Augen auf und sah Madeleine, der auf seinem Strohsack saß und die schlafende Cosette betrachtete. Auch Fauchelevent setzte sich auf und sagte:
»Da Sie nun einmal hier sind, wie macht man es, daß Sie auch herauskommen?«
Dieser Ausdruck kennzeichnete die ganze Situation und weckte Jean Valjean aus seiner Träumerei. Die beiden Männer begannen zu beraten.
»Zunächst«, erklärte Fauchelevent, »dürfen Sie keinen Fuß aus diesem Zimmer setzen, weder Sie noch die Kleine. Ein Schritt in den Garten, und alles ist aufgeflogen.«
»Sehr richtig.«
»Sie sind allerdings in einem sehr guten, will sagen, in einem sehr schlechten Augenblick hierhergekommen, Vater Madeleine, denn eine der Damen ist gerade schwer krank. Folglich wird sich nicht so leicht jemand um uns kümmern. Allem Anschein nach stirbt sie gerade. Das vierzigstündige Gebet ist bereits angesagt. Die ganze Gemeinde ist in Aufregung. Also sind die Nonnen beschäftigt. Die Frau, um die es sich handelt, ist eine Heilige. Wir sind alle Heilige hier. Der einzige Unterschied ist, daß die Nonnen sagen: ›meine Zelle‹, während ich sage: ›meine Bude‹. Jetzt wird also das Gebet für die Sterbende gesprochen, und dann kommt das Totengebet und die Totenwache. Für heute haben wir Ruhe, aber für morgen kann ich nicht bürgen.«
»Allerdings ist diese Baracke in einem Mauerwinkel eingebaut«, bemerkte Jean Valjean, »und hinter dieser Ruine und den Bäumen so gut verborgen, daß man sie vom Kloster aus gar nicht sieht.«
»Wozu ich noch bemerken möchte, daß die Nonnen niemals hierherkommen.«
»Also?«
Dieses Fragezeichen schien zu bedeuten: demnach kann man ja hier sehr gut verborgen bleiben. Und darauf antwortete Fauchelevent:
»Aber da sind die Kleinen zu bedenken.«
»Welche Kleinen?«
Als Fauchelevent den Mund auftat, um zu antworten, ließ sich ein Glockenschlag vernehmen.
»Die Nonne ist tot. Das ist das Zeichen.«
Noch einmal schlug die Glocke an.
»Ja, das ist das Zeichen, Herr Madeleine. Und so wird die Glocke jede Minute anschlagen, vierundzwanzig Stunden lang, bis die Leiche aus der Kirche hinausgetragen wird. – Ja, sehen Sie, so stehts: bei der Rekreation, wenn die Kleinen Erholungsstunde haben, verstehen Sie, braucht nur ein Ball hierherzurollen, dann kommen die Kleinen alle trotz des strengen Verbots und treiben hier ihre Späße. Es sind die reinsten Teufel, diese Engelchen.«
»Wovon sprechen Sie denn?«
»Nun, von den Kleinen. Die werden Sie gleich entdecken. Dann gibt es ein großes Geschrei: Hallo, ein Mann! Heute allerdings besteht diese Gefahr nicht. Heute wird nur gebetet.«
»Ich begreife, Vater Fauchelevent. Sie sprechen von Pensionärinnen.« Und Jean Valjean dachte: Das wäre ja eine Sache für Cosette!
»Natürlich«, rief Fauchelevent, »Pensionärinnen! Und die würden hübsch um Sie herumspringen. Hier ein Mann zu sein ist schlimmer als die Pest bekommen. Sie sehen doch, daß man mir dieses Glöckchen umgebunden hat, als ob ich ein Vieh wäre.«
Jean Valjean wurde immer nachdenklicher. Dieses Kloster, dachte er, wäre ein gutes Asyl.
»Ja, es ist nur schwer, hierzubleiben«, sagte er laut.
»Nein, die größte Schwierigkeit ist die, hinauszukommen.«
Jean Valjean fühlte, wie ihm das Blut zum Herzen drang.
»Hinaus?«
»Ja, Herr Madeleine, denn um wieder hereinzukommen, müssen Sie doch erst mal draußen sein. Hier dürfen Sie sich nicht finden lassen. Für mich sind Sie vom Himmel gefallen, weil ich Sie kenne, aber diese Nonnen ziehen es vor, wenn man durch die Türe hereinkommt.«