Mit dem Selbstbewußtsein eines Mannes, dessen Wert anerkannt wird, begann er jetzt eine ebenso konfuse wie tiefgründige Rede vom Stapel zu lassen. Er verbreitete sich zunächst über sein Alter, allerlei Gebrechen, daß zum Beispiel die letzten Jahre geradezu doppelt zählen, dann über die Beschwerden der Arbeit, die Größe des Gartens, die Nachtarbeit (wie unlängst, da er wegen des Mondlichts die Melonen hatte einwickeln müssen), und kam endlich zu folgendem Ergebnis: er habe einen Bruder (Unruhe der Priorin), beileibe keinen jungen Bruder (die Priorin gibt Zeichen der Beruhigung), und dieser Bruder würde, wenn es erlaubt wäre, ganz gern zu ihm ziehen und ihm bei der Arbeit behilflich sein. Dieser Bruder sei ein hervorragender Gärtner, der der Klostergemeinde große Dienste tun würde, bessere, als er, Fauchelevent, tun könne. Wenn man aber diesen Bruder nicht in Dienst nehmen wolle, müsse er, wenn auch mit Bedauern, ausscheiden, denn er fühle sich seiner Aufgabe nicht mehr gewachsen. Überdies habe dieser Bruder auch eine kleine Enkelin, die er mitbringen möchte, um sie im Kloster erziehen zu lassen. Wer könne wissen, ob sie nicht dereinst eine gute Nonne würde.
Als er mit dieser Rede fertig war, ließ die Priorin den Rosenkranz ruhen und sagte:
»Können Sie sich für heute abend eine starke Eisenstange verschaffen?«
»Wozu?«
»Um sie als Hebel zu benützen.«
»Doch, ehrwürdige Mutter«, antwortete Fauchelevent.
Ohne ein Wort hinzuzufügen, stand die Priorin auf und ging in das Nachbarzimmer, den Kapitelsaal, wo die Mütter offenbar versammelt waren. Fauchelevent blieb allein.
Mutter Innocentia
Eine Viertelstunde verstrich. Endlich kam die Priorin zurück und nahm Platz.
Beide, die Priorin und Vater Fauchelevent, schienen ernsten Gedanken nachzuhängen. Wir wollen das Gespräch, das sich ergab, nach unserem besten Können wiedergeben, als ob wir mitstenographiert hätten.
»Vater Fauvent?«
»Ehrwürdige Mutter?«
»Sie kennen die Kapelle?«
»Ich habe eine kleine vergitterte Bank darin, um dem Gottesdienst beizuwohnen.«
»Waren Sie schon einmal im Chor?«
»Zwei- oder dreimal.«
»Es handelt sich darum, eine Steinplatte zu heben.«
»Ist sie schwer?«
»Es ist die Steinfliese neben dem Altar.«
»Der Stein, der das Grabgewölbe abschließt?«
»Ja.«
»Wieder so eine Gelegenheit, wo zwei Männer besser am Platz sind als einer.«
»Mutter Ascension ist stark wie ein Mann. Sie wird Ihnen helfen.«
»Eine Frau ist niemals ein Mann.«
»Wir können Ihnen aber nur eine Frau als Helferin zur Verfügung stellen. Jeder tut, was er kann. Weil Mabillon vierhundertundsiebzehn Briefe des heiligen Bernardus und Merlonus Horstius nur dreihundertsiebenundsechzig Briefe desselben mitzuteilen weiß, verachte ich den Merlonus Horstius doch nicht.«
»Ich auch nicht.«
»Das Verdienst besteht darin, nach besten Kräften zu wirken. Ein Kloster ist keine Zimmermannswerkstatt.«
»Und eine Frau ist kein Mann. Mein Bruder, der ist stark!«
»Außerdem haben Sie ja einen Hebel.«
»Das ist der einzige Schlüssel, mit dem man solche Türen aufkriegt.«
»Und in dem Stein ist ein Ring.«
»Da stecke ich den Hebel hinein.«
»Und die vier ersten Sängerinnen unter den Müttern vom Chor können Ihnen helfen.«
»Wenn wir aber das Grabgewölbe offen haben?«
»Dann muß man es wieder zumachen.«
»Das ist alles?«
»Nein.«
»Ich bitte um Ihre Befehle, ehrwürdigste Mutter.«
»Fauvent, Sie genießen unser Vertrauen.«
»Ich bin hier, um alles zu tun.«
»Und um über alles zu schweigen.«
»Jawohl, ehrwürdige Mutter.«
»Wenn das Gewölbe geöffnet ist …«
»Dann mach ich es wieder zu.«
»Aber vorher …«
»Was, ehrwürdige Mutter?«
»Man muß etwas hinunterlassen.«
Schweigen trat ein. Die Priorin schob die Unterlippe vor, als ob sie zögere, dann nahm sie das Gespräch wieder auf.
»Vater Fauvent?«
»Ehrwürdige Mutter?«
»Sie wissen, daß eine Mutter im Hause gestorben ist, heute morgen.«
»Nein.«
»Haben Sie denn die Glocke nicht gehört?«
»Hinten im Garten hört man nichts.«
»Wahrhaftig nicht?«
»Kaum daß ich es höre, wenn Sie nach mir schellen.«
»Sie ist bei Tagesanbruch gestorben.«
»Überdies weht der Wind um diese Zeit nach der anderen Seite.«
»Es ist Mutter Crucifixion, eine Selige.«
Die Priorin schwieg, bewegte die Lippen wie zu einem stillen Gebet, dann fuhr sie fort:
»Vor drei Jahren hat sich eine Jansenistin, Madame de Béthune, zum wahren Glauben bekehrt, nachdem sie Mutter Crucifixion beten gesehen hatte.«
»Ah, jetzt höre ich auch die Glocke, ehrwürdige Mutter!«
»Die Mütter haben sie in die Totenkammer getragen, die an die Kirche stößt.«
»Ich weiß.«
»Kein anderer Mann als Sie kann und darf diesen Raum betreten. Das wäre ja schön, wenn ein Mann in unsere Totenkammer käme!« Die Priorin wechselte das Thema.
»Bei ihren Lebzeiten schon hat Mutter Crucifixion Bekehrungen vollbracht. Nach ihrem Tode wird sie Wunder tun.«
»Unbedingt«, erwiderte Fauchelevent.
»Vater Fauvent, unsere Gemeinde ist in Mutter Crucifixion gesegnet. Ohne Zweifel ist es nicht aller Welt gegeben, zu sterben wie Kardinal Bérulle, den der Tod antrat, während er die Messe las; er hauchte seine Seele bei den Worten ›Hanc igitur oblationem‹ aus. Aber wenn Mutter Crucifixion auch eines solchen Glücks nicht teilhaftig wurde, so hat sie doch einen sehr schönen Tod gehabt. Sie blieb bis zum letzten Augenblick bei vollem Bewußtsein. Sie sprach mit uns und später mit den Engeln. Auch konnte sie uns ihren letzten Willen aufgeben. Wenn Sie etwas mehr Glauben hätten und in der Zelle gewesen wären, gewiß hätte sie mit einer einzigen Berührung Ihr Bein geheilt. Sie lächelte. Man fühlte, wie sie sich Gott näherte. In diesem Tode war ein Vorgeschmack vom Paradies.«
Fauchelevent glaubte, dies sei das Ende eines Gebetes.
»Amen«, sagte er.
»Vater Fauvent, man muß den Willen der Toten erfüllen.«
Wieder nahm sie einige Kügelchen ihres Rosenkranzes durch. Fauchelevent schwieg.
»Ich habe heute nacht über diese Frage mit mehreren Gottesgelehrten gesprochen«, fuhr sie fort, »die mit den Regeln des geistlichen Lebens vertraut sind. Überdies handelt es sich hier nicht um eine gewöhnliche Tote, sondern um eine Heilige.«
»Wie Sie, ehrwürdige Mutter.«
»Sie schlief seit zwanzig Jahren in ihrem Sarg. Sie hatte eine besondere Erlaubnis unseres heiligen Vaters Pius VII.«