Jetzt schöpfte die Priorin Atem und wandte sich wieder Fauchelevent zu:
»Vater Fauvent, abgemacht?«
»Abgemacht.«
»Wir können auf Sie zählen?«
»Ich werde gehorchen.«
»Brav!«
»Ich bin dem Kloster ganz ergeben.«
»Wohlverstanden: Sie verschließen den Sarg. Die Schwestern tragen ihn in die Kapelle. Es folgt das Totenamt. Dann gehen alle ins Kloster zurück. Zwischen elf und Mitternacht kommen Sie mit Ihrer Eisenstange. Alles wird ganz im stillen besorgt. In der Kapelle sind nur die vier Mütter Sängerinnen, Mutter Ascension und Sie. Sie dürfen nicht vergessen, die Glocke abzunehmen.«
»Ehrwürdige Mutter?«
»Ja?«
»War der Totenbeschauer schon da?«
»Er kommt um vier Uhr. Das Zeichen wurde schon gegeben. Hören Sie es denn nicht?«
»Ich achte nur auf mein Zeichen.«
»Das ist brav von Ihnen, Vater Fauvent.«
»Ehrwürdige Mutter, ich brauche eine Stange von mindestens sechs Fuß Länge.«
»Wo wollen Sie die hernehmen?«
»Wo es Gitter gibt, fehlt es auch nicht an Eisenstangen. Ich habe eine Menge Eisenzeug hinten im Garten.«
»Also drei viertel Stunden vor Mitternacht. Vergessen Sie nicht!«
»Ehrwürdige Mutter?«
»Was gibt’s?«
»Wenn Sie vielleicht noch solche Aufträge hätten … mein Bruder ist sehr stark. Der reinste Türke.«
»Machen Sie es so rasch wie möglich.«
»Sehr schnell kann ich es nicht. Ich bin schon ein alter Mensch. Gerade darum brauche ich ja den Gehilfen. Auch bin ich lahm.«
»Lahm sein ist keine Schande, eher ein Segen. Der Kaiser Heinrich II., der den Gegenpapst Gregor bekämpfte und Benedict VIII. wieder einsetzte, hatte zwei Beinamen: Der Heilige und Der Lahme. Aber vergessen Sie nicht, Vater Fauvent, das Totenamt beginnt um Mitternacht. Alles muß eine gute Viertelstunde vorher fertig sein.«
»Ich werde mich bemühen, der Gemeinde meinen Eifer zu beweisen. Zwei Männer hätten die Sache besser geschafft. Die Regierung soll nichts davon ahnen. Ist alles so in Ordnung, ehrwürdige Mutter?«
»Nein.«
»Was gibt’s denn noch?«
»Wir haben noch nicht für den leeren Sarg gesorgt.«
Wieder folgte eine Pause. Fauchelevent und die Priorin dachten nach.
»Vater Fauvent, was soll mit dem leeren Sarg geschehen?«
»Nun, der wird begraben.«
»Leer?«
Wieder eine Pause. Fauchelevent machte mit der Linken eine Geste, wie wenn er eben eine beunruhigende Frage gelöst hätte.
»Ehrwürdige Mutter, ich nagle auch diesen Sarg in dem niedrigen Saal in der Kirche zu. Niemand außer mir braucht dorthin zu kommen. Dann breite ich das Totentuch darüber.«
»Ja, aber wenn die Träger kommen und den Sarg in den Leichenwagen bringen, und die Totengräber, wenn sie ihn hineinlassen … die werden doch merken, daß nichts drin ist!«
»Hol’s der Teu…!«
Die Priorin bekreuzigte sich und sah den Gärtner streng an. Der …fel blieb in der Kehle stecken.
Er beeilte sich, eine gute Idee vorzubringen, damit sein Fluch in Vergessenheit gerate.
»Ehrwürdige Mutter, ich tue Erde in den Sarg. Das wiegt ebensoviel wie ein Mensch.«
»Sie haben recht. Erde und Mensch ist das gleiche. Sie wollen also die Sache mit dem leeren Sarg in Ordnung bringen.«
»Alles soll erledigt werden.«
Das Gesicht der Priorin, das bisher düster gewesen war, heiterte sich auf. Sie entließ den Gärtner mit einem Wink, und Fauchelevent ging zur Türe. Als er sie eben öffnen wollte, sagte die Priorin sanft:
»Vater Fauvent, ich bin zufrieden mit Ihnen. Führen Sie mir morgen nach dem Begräbnis Ihren Bruder vor und sagen Sie ihm, er soll die Kleine mitbringen.«
Jean Valjean scheint Austin Castillejo gelesen zu haben
Die Schritte eines Lahmen sind wie die Blicke des Einäugigen, sie kommen langsam ans Ziel. Überdies war Fauchelevent sehr versonnen. In diesem Zustand brauchte er eine Viertelstunde, um in seine Gartenbaracke zurückzukehren.
»Nun, wie steht’s?« fragte Jean Valjean.
»Die Schwierigkeiten sind behoben, und sie sind auch wieder nicht behoben. Ich habe die Erlaubnis, Sie einzulassen; aber bevor ich von ihr Gebrauch machen kann, müssen Sie erst hinauskommen. Darüber stolpern wir. Für die Kleine ist gesorgt.«
»Werden Sie sie hinaustragen?«
»Wird sie schweigen?«
»Dafür bürge ich.«
»Aber Sie, Vater Madeleine? Gehen Sie doch da hinaus, wo Sie hereingekommen sind!«
Jean Valjean beschränkte sich darauf, wie das erstemal zu antworten:
»Unmöglich.«
Fauchelevent, der eher mit sich selbst zu sprechen schien, murmelte:
»Die andere Sache geht mir auch im Kopf herum. Ich habe gesagt, ich werde Erde hineintun, aber Erde statt eines Menschen, das ist ganz etwas anderes, das rutscht und verschiebt das Gleichgewicht. Die Träger werden es gleich merken. Verstehen Sie, Vater Madeleine, die Regierung wird uns darauf kommen.«
Jean Valjean sah ihn scharf an, denn er hielt ihn für betrunken.
»Wie zum Teu…, na, sagen wir Deubel, wie sollen Sie hinauskommen? Und alles das muß morgen geschehen! Morgen soll ich Sie auch hereinbringen. Die Priorin erwartet Sie.«
Jetzt erklärte er Jean Valjean, daß es sich um eine Belohnung für einen Dienst handle, den er, Fauchelevent, der Gemeinde geleistet. Er erzählte ihm alles, was vorgefallen war.
»Was tu ich nur mit dem leeren Sarg?« schloß er.