Выбрать главу

Fauchelevent spazierte sehr zufrieden hinter dem Leichenwagen einher. Sein Doppelkomplott, das eine zugunsten der Nonnen, das andere zugunsten Madeleines, eines für und eines wider das Kloster, war bis jetzt geglückt. Jean Valjean war so ruhig gewesen, daß seine Ruhe sich auch dem andern mitteilte. Jetzt zweifelte Fauchelevent nicht mehr an dem Erfolg. Was noch zu tun blieb, war eine Kleinigkeit. Im Laufe der letzten zwei Jahre hatte er den Totengräber, den wackeren Vater Mestienne, zehnmal unter den Tisch getrunken. Der Mestienne war leicht zu behandeln. Mit dem konnte man machen, was man wollte. Den konnte man striegeln, wie es einem beliebte. Mestiennes Kopf richtete sich ganz nach Fauchelevents Kappe.

Der Gärtner war, wie man sieht, seiner Sache sicher.

Als der Leichenzug in die Friedhofsstraße einbog, rieb Fauchelevent sich vergnügt die Hände und sagte leise:

»Ein Mordsspaß!«

Plötzlich hielt der Wagen.

Man hatte das Gitter erreicht. Jetzt mußte die Erlaubnis zur Beerdigung vorgewiesen werden. Der Mann von der Leichenbestattung verhandelte mit dem Friedhofspförtner. Während dieser Unterredung, die immer ein oder zwei Minuten in Anspruch nahm, trat ein Unbekannter neben Fauchelevent. Es war wohl ein Arbeiter, er trug eine Joppe mit breiten Taschen und eine Schaufel.

Fauchelevent sah ihn an.

»Wer sind denn Sie?« fragte er.

»Der Totengräber.«

Ein Kanonenschuß hätte Fauchelevent nicht mehr erschrecken können. Wer eine Kanonenkugel mitten in die Brust bekommt und dann noch lebt, schneidet sicher kein anderes Gesicht.

»Der Totengräber?«

»Ja.«

»Sie?«

»Ich.«

»Totengräber ist doch Vater Mestienne.«

»War.«

»Wieso war?«

»Er ist tot.«

Fauchelevent war auf alles gefaßt, nur nicht darauf, daß ein Totengräber sterben könne. Und doch ist es wahr, auch die Totengräber sterben. Bei der großen Gräberei graben sie schließlich auch sich ein Grab.

Fauchelevent stand mit offenem Munde da. Stotternd sagte er:

»Unmöglich!«

»Aber wahr.«

»Aber der Totengräber ist doch Vater Mestienne«, versuchte er noch einmal schwach.

»Nach Napoléon Ludwig XVIII. Nach Mestienne Gribier. Bauer, ich heiße Gribier.«

Totenblaß starrte Fauchelevent Gribier an.

Es war ein langer, magerer, blasser, finsterer Mensch. Er sah aus wie ein verkrachter Mediziner, der stracks Totengräber geworden ist.

Fauchelevent begann wild zu lachen.

»Na, toll geht’s ja zu auf der Welt! Papa Mestienne ist tot? Gut, der kleine Papa Mestienne ist tot, so lebe der kleine Papa Lenoir! Kennen Sie den? Ein fabelhafter Roter zu sechs Sous pro Kapsel. Schießt alles ab, was das Surêne hervorbringt, Schockschwerenot! Echter Surêne! Ach, tot ist der alte Mestienne, tut mir leid; bei Lebzeiten war er recht lebhaft. Aber auch Sie, Sie stehen einstweilen gut auf den Beinen. Nicht wahr, wir gehen jetzt einen heben, wir beide?«

»Ich habe studiert. Bis zum vierten Jahrgang hab ich es gebracht. Ich trinke niemals.«

Der Wagen fuhr wieder los und bog jetzt in die große Friedhofsallee ein.

Fauchelevent ging langsam. Er hinkte vor Angst mehr als je. Der Totengräber stapfte voraus.

Noch einmal examinierte Fauchelevent den unerwarteten Gribier. Es war einer von denen, die, obwohl sie jung sind, alt aussehen, und obwohl sie mager sind, über genug Kräfte verfügen.

»Kamerad!« rief Fauchelevent.

Der andere wandte sich um.

»Ich bin der Totengräber des Klosters.«

»Kollege also«, sagte der andere.

Fauchelevent war des Lesens und Schreibens unkundig, aber schlau genug, um zu begreifen, daß er es hier mit einem beängstigenden Menschen und überdies mit einem guten Sprecher zu tun hatte.

»Na ja«, murmelte er, »Vater Mestienne ist tot.«

»Mausetot«, sagte der andere. »Der liebe Gott hat in seinem Buch nachgesehen, welche Wechsel jetzt zum Protest kommen, und da hat er gesehen, daß Mestienne an der Reihe war.«

»Der liebe Gott«, murmelte Fauchelevent mechanisch.

»Der liebe Gott«, sagte der andere dozierend, »den die Philosophen den ewigen Vater, die Jakobiner das höchste Wesen nennen.«

»Wollen wir denn nicht Bekanntschaft schließen?« stammelte Fauchelevent.

»Das ist schon gemacht. Sie sind ein Bauer, ich bin ein Pariser.«

»Wissen Sie, ich sage immer: solange man zusammen nicht einen gehoben hat, kennt man sich nicht. Glas ausgetrunken, Herz ausgeschüttet! Kommen Sie mit mir einen trinken. So was lehnt man doch nicht ab.«

»Erst die Arbeit.«

Verloren, dachte Fauchelevent.

Noch einige Biegungen der kleinen Allee, und man war an der Begräbnisstätte der Nonnen.

»Bauer«, sagte der Totengräber unvermittelt, »ich habe sieben Mäuler zu stopfen. Da sie essen müssen, darf ich nicht trinken.« Und ernsthaft fügte er hinzu: »Ihr Hunger ist der Feind meines Durstes.«

Der Leichenwagen bog jetzt in eine Gruppe von Zypressen und fuhr durch ungepflegtes Gelände. Man war offenbar dicht vor dem Begräbnisplatz. Fauchelevent ging zwar langsamer, aber er konnte dadurch den Wagen nicht aufhalten. Glücklicherweise kamen die Räder in dem lockeren, vom winterlichen Regen aufgeweichten Erdreich schwach vorwärts.

Wieder wandte er sich an den Totengräber:

»Und so einen guten Wein aus Argenteuil gibt es dort«, murmelte er.

»Mann vom Lande, das dürfte nicht sein, daß ein Mann wie ich Totengräber ist. Mein Vater war Pförtner am Prytaneum. Er bestimmte mich für die Literatur. Aber er hatte Unglück. Er verlor an der Börse. Ich konnte nicht den Dichterberuf ergreifen. Immerhin bin ich öffentlicher Schreiber.«

»Also Sie sind nicht Totengräber?« fragte Fauchelevent, der nach diesem schwachen Zweig der Hoffnung griff.

»Das eine schließt das andere nicht aus. Ich kumuliere diese beiden Berufe.«

Fauchelevent kannte das Wort kumulieren nicht.

»Gehen wir trinken«, sagte er.

Wir müssen hier eine Bemerkung einschalten. Fauchelevent bot in seiner Angst einen gemeinsamen Trunk an, aber über die Frage, wer ihn bezahlen sollte, äußerte er sich nicht. Gemeinhin hatte er es so gehalten, daß er einlud und Mestienne bezahlte. Diesmal resultierte die Einladung offenbar aus der Lage, die durch Einstellung des neuen Totengräbers geschaffen war, und sie mußte von ihm, Fauchelevent, ausgehen, aber der alte Gärtner vermied volle Klärung. So erregt er auch war, dachte er zunächst nicht ans Zahlen.

Inzwischen fuhr der Totengräber mit überlegenem Lächeln fort:

»Essen muß der Mensch. Ich habe Vater Mestiennes Amt übernommen. Wenn man sein Gymnasium fast gemacht hat, ist man auch Philosoph. Zur Arbeit der Hand fügt man gern die des Armes. Ich habe meinen Schreiberstand auf dem Markt in der Rue de Sèvres. Wissen Sie, der Regenschirmmarkt. Alle Köchinnen von der Croix-Rouge kommen zu mir. Ich mache ihnen ihre Liebesbriefe an die Soldaten. Morgens schreibe ich gurrende Brieflein, abends bin ich Totengräber. So ist das Leben, Bauer.«

Der Wagen rollte immer weiter. Fauchelevent hatte den Höhepunkt seiner Unruhe erreicht und blickte fassungslos um sich. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn.

»Aber man kann nicht zwei Herren dienen«, fuhr der Totengräber fort. »Ich werde mich zwischen Feder und Schaufel entscheiden müssen. Die Schaufel macht meine Hand schwer.« Der Wagen hielt. Der Chorknabe stieg aus der Equipage, dann folgte der Priester.

Eines der Räder des Wagens war in einem Erdhaufen festgefahren, hinter dem man in eine offene Grube blickte.

»Ein Mordsspaß!« wiederholte Fauchelevent außer sich.

Zwischen vier Brettern

Alles ging, wie Jean Valjean es vorausgesehen hatte. Auch er verließ sich, wie Fauchelevent, auf Vater Mestienne. Jetzt zweifelte er nicht mehr an dem guten Ausgang. Nie war eine Situation kritischer, nie gleichzeitig die Ruhe des Betroffenen vollendeter.