Die vier Bretter eines Sarges schließen, wenn dieser Ausdruck erlaubt ist, einen furchtbaren Frieden in sich. Es war, als ob etwas von der Ruhe der Toten auf Jean Valjean übergegangen wäre. Aus seinem Sarge konnte er allen Phasen des Dramas folgen. Kurz nachdem Fauchelevent den Deckel vernagelt hatte, hatte er gefühlt, wie er zuerst getragen, dann gefahren wurde. Als der Wagen weniger stieß, begriff er, daß er jetzt durch eine gutgepflasterte Straße kam, durch einen der Boulevards. Aus einem dumpfen Geräusch erriet er, daß der Wagen jetzt über die Austerlitzer Brücke fuhr. Als er das erstemal hielt, war man offenbar an der Friedhofsmauer angekommen, beim zweitenmal an der Grube.
Jetzt faßten Hände nach dem Sarg, ein rauhes Reiben wurde an den Brettern vernehmbar: man schlang also gerade das Seil um den Sarg, um ihn in die Grube zu senken.
Dann folgte eine leichte Betäubung. Die Träger hatten den Sarg wohl schräg gestellt, der Kopf war vor den Füßen unten angekommen. Als er wieder in horizontale Lage kam, wurde ihm besser. Er fühlte eine gewisse Kälte.
Eine Stimme sprach etwas aus der Höhe herab, eisig und feierlich. Langsam, daß er eines nach dem andern greifen konnte, klangen die lateinischen Worte, die er nicht verstand, an sein Ohr:
»Qui dormiunt in terrae pulvere, evigilabunt: alii in vitam aeternam, et alii in opprobrium, ut videant semper.«
Eine Kinderstimme antwortete:
»De profundis.«
Die tiefe Stimme begann von neuem:
»Requiem aeternam dona ei, domine.«
Und wieder die Kinderstimme:
»Et lux perpetua luceat ei.«
Dann war etwas wie leichtes Klatschen von Regentropfen auf dem Deckel zu vernehmen. Offenbar Weihwasser.
Es wird gleich zu Ende sein, dachte er. Noch ein wenig Geduld. Der Priester wird gehen. Fauchelevent führt Mestienne in die Kneipe. Mich läßt man allein. Dann kommt Fauchelevent zurück, diesmal allein, und ich steige heraus. Die Sache kann eine gute Stunde dauern.
Die tiefe Stimme begann von neuem:
»Requiescat in pace.«
Und die Kinderstimme:
»Amen.«
Jean Valjean spitzte die Ohren und hörte Schritte sich entfernen.
Aha, jetzt gehen sie. Ich bleibe allein.
Jetzt hörte er ein furchtbares Getöse, das wie ein Donnerschlag auf den Deckel des Sarges niederging.
Es war eine Schaufel Erde. Eine zweite folgte.
Eines der Löcher, durch das er atmete, war verlegt.
Eine dritte.
Dann eine vierte.
Es gibt Dinge, die der stärkste Mann nicht erträgt. Jean Valjean fiel in Ohnmacht.
Man erfährt den Ursprung des Wortes: Seine Karte nicht verlieren
Und folgendes trug sich inzwischen über dem Sarge zu, in dem Jean Valjean lag.
Als der Wagen sich entfernt hatte und der Priester und der Chorknabe wieder in ihre Equipage gestiegen waren, sah Fauchelevent, der den Totengräber nicht aus den Augen ließ, wie dieser sich bückte und seinen Spaten ergriff.
Ein äußerster Entschluß reifte in ihm.
Er trat zwischen die Grube und den Totengräber, breitete die Arme aus und sagte:
»Ich bezahle es!«
»Was, Bauer?« fragte der Totengräber verwundert.
»Nun«, stotterte Fauchelevent, »ich bezahle.«
»Was?«
»Den Wein.«
»Welchen Wein?«
»Den Argenteuil.«
»Geh zum Teufel!« sagte der Totengräber. Und er warf den ersten Spaten voll Erde auf den Sarg.
Der Sarg ächzte. Fauchelevent glaubte zu taumeln und fürchtete, er würde selber in die Grube fallen. Röchelnd stöhnte er:
»Kamerad, rasch, bevor die Budike schließt! Ich bezahle! Hören Sie, Kamerad, ich bin der Totengräber des Klosters. Ich soll Ihnen helfen. Das ist eine Arbeit, wie geschaffen für die Nacht. Zuerst ein Gläschen!«
Während er diesen letzten Versuch wagte, überlegte er:
Wenn er auch trinkt, wird er betrunken werden?
»Provinzler«, sagte der Totengräber, »wenn Sie absolut darauf bestehen, gut. Trinken wir eins. Aber nach der Arbeit. Niemals vorher.«
Schon wieder hatte er den Spaten bereit. Fauchelevent fiel ihm in den Arm.
»Argenteuil zu sechs!«
»Großer Gott, Sie sind ja ein Glöckner! Bimbam bimbam, immer dasselbe!«
Und die zweite Schaufel folgte.
Fauchelevent geriet in einen Zustand, in dem man nicht mehr weiß, was man spricht.
»Kommen Sie doch, ich zahle ja«, schrie er.
»Wenn wir das Kindchen da zu Bett gebracht haben«, sagte der Totengräber.
Die dritte Schaufel.
Jetzt stieß er den Spaten in die Erde und fügte hinzu:
»Heute wird es kalt. Die Tote wird schimpfen, wenn wir sie ohne Decke lassen.«
Während er wieder seine Schaufel belud und sich bückte, klaffte eine seiner Taschen auf. Fauchelevents irrer Blick fiel in die Tasche und wurde starr. Die Sonne war noch nicht ganz untergegangen. Es war noch hell genug, daß er etwas Weißes in der Tasche bemerkte.
Alle List, deren ein pikardischer Bauer fähig ist, blitzte in Fauchelevents Auge auf. Er hatte eine Idee.
Ohne daß der Totengräber etwas bemerkte, griff er ihm in die Tasche und zog das Weiße heraus.
Vierte Schaufel.
Als er sich umwandte, um die fünfte aufzunehmen, sah ihn Fauchelevent ruhig an und sagte:
»Übrigens, Herr Neuling, haben Sie Ihre Karte?«
»Welche Karte?«
»Frau Sonne geht zu Bett.«
»Von mir aus soll sie sich ihre Nachtmütze aufsetzen.«
»Der Pförtner wird gleich schließen.«
»Na und?«
»Haben Sie Ihre Karte?«
»Ach, meine Karte«, sagte der Totengräber und griff in die Tasche.
Er suchte dann noch in der anderen. Auch in der Westentasche, in den Hosentaschen.
»Nein, ich habe sie nicht. Ich habe sie vergessen.«
»Fünfzehn Franken Strafe«, erklärte Fauchelevent.
Der Totengräber wurde grün. Grün ist die Blässe derer, die immer weiß sind.
»Kreuzhimmeldonnerwetter! Fünfzehn Franken!«
»Dreimal hundert Sous«, bestätigte Fauchelevent.
Die Schaufel fiel zu Boden.
Jetzt mußte Fauchelevent seine Trümpfe ausspielen.
»Na, Rekrut, nicht verzweifeln! Hier ist nicht von Selbstmord die Rede. Es findet sich immer ein Ausweg. Fünfzehn Franken sind immerhin fünfzehn, aber Sie müssen sie ja nicht bezahlen. Ich bin alt, Sie sind jung. Ich weiß alle Schliche und Tricks. Ich will Ihnen einen freundschaftlichen Rat geben. Eins ist klar. Die Sonne geht unter, sie steht schon über dem Dom. In fünf Minuten wird geschlossen.«
»Allerdings.«
»In fünf Minuten werden Sie mit der Grube da nicht fertig, die ist teuflisch tief, und dann ist es ja auch noch ein Stück Weg bis zum Gitter. Wenn Sie hinkommen, ist alles zu.«
»Weiß Gott.«
»Also – fünfzehn Franken Strafe.«
»Fünfzehn Franken!«
»Aber Sie haben ja noch Zeit. Wo wohnen Sie?«
»Zwei Schritt hinter dem Tor. Eine Viertelstunde von hier. Rue de Vaugirard Nr. 87.«
»Na, wenn Sie Ihre Beine in die Hand nehmen, kommen Sie noch raus. Und wenn Sie erst draußen sind, husch, husch, dann laufen Sie nach Hause, holen Ihre Karte, kommen wieder her, und der Pförtner öffnet Ihnen. Wenn Sie die Karte haben, brauchen Sie nichts zu bezahlen. Dann begraben Sie Ihren Toten. Ich warte einstweilen hier, daß er nicht ausrückt.«
»Ich schulde Ihnen das Leben, Bauer!«
»Aber jetzt los!«
Der Totengräber drückte ihm noch die Hand, dann lief er davon. Als er verschwunden war, beugte sich Fauchelevent über die Grube und rief leise: