»Vater Madeleine!«
Nichts.
Fauchelevent schauderte. Er fiel mehr in die Grube, als er hinabstieg, und begann zu schreien:
»Sind Sie da?«
Totenstille.
Fauchelevent, der kaum mehr Luft bekam, ergriff Hammer und Stemmeisen und sprengte den Deckel ab. Im Sarge lag Jean Valjean, blaß mit geschlossenen Augen.
Fauchelevents Haare sträubten sich, er taumelte zurück. Noch immer regte sich Jean Valjean nicht.
»Er ist tot«, murmelte Fauchelevent.
Dann kreuzte er die Arme, daß seine Fäuste bis zu seinen Schultern kamen, und stöhnte:
»So rette ich die Leute!«
Dann begann er zu schluchzen.
Es ist Vater Mestiennes Schuld, seufzte er. Warum ist er gestorben, der Trottel? Muß krepieren, gerade wenn niemand daran denkt. Er hat Herrn Madeleine umgebracht! Vater Madeleine. Es ist aus. Hat so etwas einen Sinn? Mein Gott, und die Kleine, was fange ich nur mit der an? Was wird die Gemüsehändlerin sagen? Daß ein Mensch so stirbt, ist das möglich? Wenn ich mir vorstelle, daß derselbe unter meinem Wagen war! Vater Madeleine erstickt, wie ich es vorausgesehen habe. Er hat mir nicht glauben wollen. Ein schöner Blödsinn! Jetzt ist er tot, der brave Mensch! Und die Kleine! Na, zunächst geh ich nicht nach Hause. Ich bleibe hier. Zwei Alte sind nötig, damit eine doppelte Trottelei herauskommt, schluchzte er. Wie er mir erst in das Kloster hineingekommen ist? Das war schon der Anfang. So was macht man nicht. Vater Madeleine! Vater Madeleine! Madeleine! Herr Madeleine! Herr Bürgermeister! Er hört nicht. So, jetzt möcht ich wissen, wie man da herauskommt.
Und er fuhr sich verzweifelt in die Haare. Aus der Ferne klang das Knirschen der Torflügel herüber.
Fauchelevent beugte sich über Jean Valjean. Plötzlich aber fuhr er so weit zurück, als er es in der engen Grube konnte. Jean Valjean hatte die Augen geöffnet und sah ihn an.
Der Anblick eines Toten ist unangenehm, der einer Auferstehung aber nicht weniger. Fauchelevent war wie versteinert, er wußte nicht, ob er einen Lebenden oder einen Toten vor sich habe.
»Ich bin eingeschlafen«, sagte Jean Valjean.
Und er setzte sich auf.
»Heilige Mutter Gottes«, rief Fauchelevent und fiel auf die Knie, »Sie haben mir aber einen Schreck eingejagt!«
Die frische Luft hatte Jean Valjean geweckt.
»Mich friert«, sagte er.
Erst jetzt fand sich Fauchelevent in der Wirklichkeit, die manches Dringliche hatte, zurecht.
»Gehen wir rasch fort«, empfahl Fauchelevent.
Er suchte in seiner Tasche und holte eine Flasche hervor.
»Aber zuerst einen Tropfen!«
Die Flasche vollendete, was die frische Luft getan. Jean Valjean trank einen Schluck Aquavit und war wieder im Vollbesitz seiner Kräfte. Er kletterte aus dem Sarg und half Fauchelevent, ihn wieder zu vernageln. Drei Minuten später waren sie aus dem Grabe.
Übrigens war Fauchelevent ruhig. Man hatte Zeit. Der Friedhof war geschlossen, Gribier konnte nicht kommen. Der »Rekrut« war zu Hause und suchte seine Karte, die er gewiß nicht finden würde, da sie ja in Fauchelevents Tasche steckte. Ohne Karte konnte er den Friedhof nicht wieder betreten.
Fauchelevent und Jean Valjean vollendeten die Beerdigung des leeren Sarges. Als die Grube zu war, sagte Fauchelevent:
»Gehen wir.«
Es war jetzt finstere Nacht.
Jean Valjean hatte es nicht leicht, zu gehen. In dem Sarge war er steifgefroren wie ein Leichnam.
»Sie sind steif«, sagte Fauchelevent. »Schade, daß ich lahm bin, sonst könnten wir es auf einen Wettlauf ankommen lassen.«
»Pah, in vier Schritten bin ich wieder frisch.«
Sie schritten die Allee entlang. Als sie an dem Pavillon des Pförtners vorbeikamen, warf Fauchelevent die Karte des Totengräbers in den Schlitz, die Schnur wurde gezogen, und die Tür ging auf.
»Alles in Ordnung«, sagte Fauchelevent befriedigt. »Ich habe wirklich eine gute Idee gehabt.«
Sie kamen unbehelligt durch das Tor Vaugirard, denn Schaufel und Spaten sind in der Friedhofsgegend soviel wert wie Pässe.
In der Rue Vaugirard war kein Mensch zu sehen.
»Vater Madeleine«, sagte Fauchelevent, der die Hausnummern eifrig studierte, »Sie haben bessere Augen als ich. Zeigen Sie mir Nr. 87.«
»Wir stehen gerade davor.«
»Es ist hier niemand auf der Straße«, sagte Fauchelevent, »geben Sie mir den Spaten und warten Sie einen Augenblick.«
Als er in Gribiers Zimmer eintrat, sagte er:
»Ich bringe Ihnen Ihren Spaten.«
Gribier war höchst erstaunt.
»Sie sind es, Bauer?«
»Ihre Karte finden Sie morgen früh beim Pförtner.«
»Was soll das bedeuten?«
»Das bedeutet, daß Ihnen die Karte offenbar aus der Tasche gefallen ist. Ich habe sie gleich nachher in der Grube gefunden, habe dort alles erledigt und die Karte dem Pförtner gegeben. Sie können sie sich morgen abholen. Die fünfzehn Franken brauchen Sie nicht zu bezahlen. So stehen die Dinge, Rekrut!«
»Vielen Dank, Bauer!« rief Gribier entzückt. »Und nächstes Mal lade ich Sie zum Wein ein.«
Das Verhör gut bestanden
Eine Stunde später – es war schon stockfinstere Nacht – erschienen zwei Männer und ein Kind in der kleinen Rue Picpus Nr. 62. Der ältere von beiden hob den Türklopfer und pochte.
Die beiden hatten Cosette von der Gemüsehändlerin abgeholt, bei der Fauchelevent sie gestern abend untergebracht hatte. Der Pförtner, der bereits seine Instruktionen erhalten hatte, öffnete die kleine Pforte, die für das Dienstpersonal bestimmt war und direkt vom Hof in den Garten führte. Er geleitete die drei in das Sprechzimmer, in dem Fauchelevent gestern die Aufträge der Priorin empfangen hatte.
Sie saß bereits, mit ihrem Rosenkranz in Händen, in einem Lehnstuhl und wartete. Eine der Mütter stand tief verschleiert neben ihr. Eine Kerze beleuchtete spärlich den Raum.
Die Priorin streifte Jean Valjean mit einem prüfenden Blick. Niemand sieht schärfer als Menschen, die immer ihren Blick gesenkt halten.
»Sie sind der Bruder?« fragte sie endlich.
»Ja, ehrwürdige Mutter«, antwortete Fauchelevent.
»Wie heißen Sie?«
Wieder antwortete Fauchelevent: »Ultime Fauchelevent.«
Er hatte wirklich einen Bruder gehabt, der Ultime hieß.
»Und von wo sind Sie?«
»Aus Picquigny bei Amiens«, antwortete Fauchelevent.
»Und wie alt sind Sie?«
Fauchelevent: »Fünfzig Jahre.«
»Und welchen Beruf üben Sie aus?«
Fauchelevent: »Gärtner.«
»Sind Sie ein guter Christ?«
Fauchelevent: »Wie alle in meiner Familie.«
»Und die Kleine gehört Ihnen?«
Fauchelevent: »Ja, ehrwürdige Mutter.«
»Sie sind ihr Vater?«
Fauchelevent: »Ihr Großvater.«
Die Mutter sagte leise zu der Priorin:
»Er antwortet gut.«
Allerdings hatte Jean Valjean noch kein Wort gesprochen.
Die Priorin sah Cosette aufmerksam an und bemerkte leise zu der Mutter:
»Sie wird häßlich werden.«
Diese Prognose bewies, daß Cosette gefallen hatte und einen Freiplatz im Pensionat bekommen würde.
Dann sprachen die beiden Nonnen noch einige Minuten in einer Ecke des Sprechzimmers, schließlich wandte sich die Priorin um:
»Vater Fauvent, Sie müssen einen zweiten Glockenriemen besorgen. Wir brauchen jetzt deren zwei.«
Dritter Teil
Marius
Erstes Buch
Der Großbürger
Der kleine Gavroche
Acht oder neun Jahre nach den Ereignissen, die im zweiten Teil dieser Geschichte berichtet wurden, konnte man auf dem Boulevard du Temple und im Gebiet des Château d’Eau einen kleinen Jungen von elf oder zwölf Jahren sehen, der ganz gut das Ideal des Pariser Straßenjungen hätte darstellen können, wenn er nicht trotz des Lächelns, das er immer auf den Lippen hatte, ein verdüstertes und leeres Herz gehabt hätte. Dieser Junge trug die Hose eines Mannes, aber er hatte sie nicht von seinem Vater; und das Hemd einer Frau, aber das hatte er nicht von seiner Mutter. Irgendwelche fremden Leute hatten ihn aus Mitleid so gekleidet.