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Und doch hatte er Vater und Mutter. Aber sein Vater dachte nicht an ihn, und seine Mutter liebte ihn nicht. Er war einer jener beklagenswerten Knaben, die Vater und Mutter haben und doch Waisen sind.

Dieser Junge fühlte sich nur auf der Straße einigermaßen glücklich. Ihr Pflaster war nicht so hart wie das Herz seiner Mutter. Mit einem Fußtritt hatten seine Eltern ihn ins Leben hinausgestoßen.

Er war ein blasser, schwächlicher Junge, dabei aber widerstandsfähig, lebhaft, aufgeweckt. Immer auf den Beinen. Er sang und spielte, durchschnüffelte die Rinnsteine, hielt für sein Eigentum, was ihm in die Finger kam, aber nach Art der Katzen und der Spatzen, heiter und unbefangen; er lachte, wenn man ihn Lausbub, ärgerte sich, wenn man ihn Miststück nannte. Er hatte kein Obdach, kein Brot, kein Feuer, wurde von niemand geliebt; aber er war fröhlich, denn er war frei.

Wenn arme Geschöpfe dieser Art zu Männern heranwachsen, geraten sie fast immer mit der sozialen Ordnung in Konflikt und werden von ihr zermalmt; solange sie klein sind, entwinden sie sich dem Zugriff, flüchten in das kleinste Loch.

Aber so verlassen dieser Junge auch war, geschah es doch, wenn auch nur alle zwei oder drei Monate einmal, daß er sich sagte: Hallo, jetzt geh ich Mama besuchen! Dann verließ er den Boulevard, entfernte sich aus der Bannmeile des Zirkus und der Porte Saint-Martin, stieg zu den Quais hinab, überquerte die Brücken und spazierte durch die Vorstädte nach der Salpêtrière. Und wo landete er? In jenem Hause Nr. 50 bis 52, das der Leser schon kennt, in dem Hause Gorbeau.

Zu jener Zeit war das Haus Nr. 50 bis 52, das sonst leer stand und immer eine Tafel »Zimmer zu vermieten« aushängen hatte, seltsamerweise von mehreren Personen bewohnt, die übrigens, wie das in Paris der Brauch ist, untereinander keine Beziehungen pflegten. Sie alle gehörten jener Klasse der Armen an, die mit dem herabgekommenen Kleinbürger beginnt und bis zu den niedrigsten Stufen der sozialen Ordnung herabsteigt, bis zu jenen Leuten, die mit den Resten der Zivilisation ihr Wesen treiben, dem Straßenkehrer und dem Lumpensammler.

Die Verwalterin aus der Zeit Jean Valjeans war gestorben und durch ein ganz ähnliches Geschöpf ersetzt worden. Irgendein Philosoph hat gesagt: An alten Weibern ist nie Mangel.

Diese neue Alte hieß Frau Burgon und hatte in ihrem Leben kaum etwas Bemerkenswertes zu verzeichnen, von einer Dynastie von drei Papageien abgesehen, die der Reihe nach ihr Herz beherrscht hatten.

Die Elendesten unter den Bewohnern des Gorbeauschen Hauses waren vier Leute, Vater, Mutter und zwei schon ziemlich erwachsene Töchter, die alle zusammen einen der dürftigen Räume, die der Leser schon kennt, bewohnten.

Außer ihrer überaus drückenden Armut bot diese Familie nichts Bemerkenswertes. Der Vater hatte, als er das Zimmer mietete, gesagt, er heiße Jondrette. Etwas später aber, als er nämlich bereits eingezogen war (wofür die Vermieterin das Wort geprägt hatte: eingezogen ohne nichts), hatte er zu Frau Burgon gesagt:

»Frau Soundso, wenn zufällig jemand kommt und nach einem Polen oder Italiener, oder gar nach einem Spanier fragt, so bin ich das.«

Diese Familie war die des lustigen Barfüßers aus der Klasse der Straßenjungen. Wenn er in ihren Schoß zurückkehrte, fand er dort wohl große Not, aber, schlimmer noch, kein Lächeln; kalten Herd und kalte Herzen. Wenn er eintrat, fragte man ihn:

»Woher kommst du?«

»Von der Straße«, antwortete er.

Und wenn er ging, fragte man ihn: »Wohin gehst du?«

»Auf die Straße.«

Seine Mutter fragte ihn wohl auch:

»Was willst du nur hier?«

Der Junge ertrug diesen Mangel an Gefühl wie Kellerpflanzen die Dunkelheit. Er begriff davon nichts, litt nicht darunter und war nicht böse darüber.

Allerdings liebte seine Mutter seine Schwestern.

Wir vergaßen zu sagen, daß der Bube auf dem Boulevard du Temple der kleine Gavroche genannt wurde. Warum Gavroche? Vielleicht weil sein Vater Jondrette hieß.

Alle Bande lösen, ist in gewissen verelendeten Familien fast ein Instinkt. Die Stube der Jondrettes war die letzte am Korridor. Den Nachbarraum bewohnte ein sehr armer junger Mann, der sich Herr Marius nennen ließ.

Unser Leser wird bald erfahren, wer dieser Herr Marius war.

Dreiundneunzig Jahre und zweiunddreißig Zähne

In der Rue Boucherard, in der Rue de Normandie und in der Rue de Saintonge gibt es noch alte Leute, die sich eines gewissen Herrn Gillenormand erinnern und gern von ihm erzählen. Dieser Mann war alt, als sie noch jung waren. Seine Silhouette ist für jene, die melancholisch in das Reich der Schatten (wie wir gerne die Vergangenheit nennen) zurückblicken, noch nicht ganz verschwunden aus dem Labyrinth der Gäßchen rings um den Temple, die unter Ludwig XIV. die Namen aller französischen Provinzen trugen, so wie man heute die Straßen im Quartier Tivoli – sicheres Zeichen des Fortschritts – nach den europäischen Hauptstädten nennt.

Herr Gillenormand, der sogar noch 1831 lebte, zählte zu jenen Menschen, die nur wegen ihres phantastischen Alters, und weil sie bereits bei Lebzeiten einer vergangenen Epoche anzugehören scheinen, merkwürdig sind. Er war ein sonderbarer Alter, wirklich ein Mensch aus einer anderen Zeit, der vollendete Typus des etwas überheblichen Großbürgers aus dem achtzehnten Jahrhundert, aus jener Zeit, da die gute alte Bourgeoisie auf ihren Stand ebenso stolz war wie die Grafen auf den ihren. Er war schon über neunzig Jahre alt, ging aufrecht, sprach laut, sah klar, trank tüchtig, aß, schlief, schnarchte. Noch hatte er seine zweiunddreißig Zähne. Nur zum Lesen setzte er Brillen auf. Noch immer war er lüstern, aber er sagte, daß er schon seit zehn Jahren vollends den Frauen entsagt habe. Er konnte, sagte er, nicht mehr gefallen. Nicht, weil er zu alt war, aber weil er nicht die nötigen Mittel besaß. »Wenn ich nicht ruiniert wäre … oho!«

In der Tat war ihm nur eine Rente von fünfzehntausend Franken jährlich verblieben. Sein Traum war, eine Erbschaft von hunderttausend Franken Jahresertrag zu machen und sich Mätressen anzuschaffen. Kurz, er zählte nicht zu jenen gebrechlichen Achtzigjährigen, die, wie Voltaire, ihr ganzes Leben im Sterben lagen, er war nicht einer jener angebrochenen Töpfe, die gerade darum alt werden; immer hatte er sich gut gefühlt. Er war oberflächlich, rasch von Entschluß, heftig. Bei jeder Kleinigkeit geriet er in Wut, zumal ohne jede vernünftige Begründung. Widersprach man ihm, so hob er den Stock. Seine Dienstboten prügelte er nach der Sitte des großen Jahrhunderts. Er hatte eine Tochter von über vierzig Jahren, die unverheiratet geblieben war; die verdrosch er, wenn er in Wut geriet, und wenn es darauf angekommen wäre, hätte er sie am liebsten mit der Peitsche gezüchtigt. Für ihn war sie höchstens acht Jahre alt. Seine Lakaien ohrfeigte er und sagte zu ihnen: »Schweinehund!« Kein Fluch war ihm grob genug. Dabei war er von verwunderlicher Seelenruhe. Täglich ließ er sich von einem Barbier rasieren, der geisteskrank gewesen war und ihn verabscheute, weil er auf Gillenormand wegen seiner Frau, einer hübschen, jungen Barbiersfrau, eifersüchtig war. Herr Gillenormand bildete sich selbst etwas auf seine Nachlässigkeit ein und sagte, er lasse sich nicht einschüchtern. Oder:

»Ich bin wirklich sehr scharfsinnig. Wenn mich ein Floh beißt, weiß ich, bei welchem Frauenzimmer ich ihn erwischt habe.«

Seine Lieblingsausdrücke waren »der empfindsame Mann« und »die Natur«. Zumal diesem letzteren Wort verlieh er nicht jenen angenehmen Sinn, den unsere Zeit ihm beilegt. Aber wenn er am Kamin saß, äußerte er sich über sie etwa wie folgt: