»Damit die Zivilisation an allem ihren Teil hat, sorgt die Natur dafür, daß die barbarischen Dinge uns in amüsanter Form dargeboten werden. Europa besitzt die Schätze Asiens und Afrikas in kleinerem Format. Die Katze ist der Salontiger, die Eidechse das Taschenkrokodil. Die Tänzerinnen von der Oper sind süße kleine Kannibalen. Sie fressen zwar keine Menschen, aber sie saugen sie aus. Die reinsten Zauberinnen! Verwandeln unsereinen in eine Auster und schlürfen ihn aus zwischen zwei Schlucken Wein. Die Karaiben lassen nur die Knochen übrig, die Mädchen von der Oper nur den leeren Beutel.«
Er wohnte im Marais, Rue des Filles Du Calvaire Nr. 6. Das Haus gehörte ihm. Es ist inzwischen abgerissen worden, und vielleicht hat das Grundstück heute sogar eine andere Nummer bekommen, da ja in den Pariser Straßen nichts beim alten bleiben durfte. Er selbst bewohnte ein altes, geräumiges Appartement im ersten Stock, es war bis zu den Plafonds mit großen Gobelins tapeziert, die Schäferszenen darstellten; und die gleichen Sujets wurden in kleinerem Format auf Stuhlbezügen wiederholt.
Er hatte Sinn für Malerei. In seinem Zimmer hatte er ein herrliches Porträt eines Unbekannten, ein Werk des Jordaens, in großen, kühnen Pinselstrichen gemalt, zugleich aber überreich an köstlichen Details.
Eine seiner Theorien lautete: Wenn ein Mann sehr hinter den Weibern her ist, sich aber aus seiner eigenen Frau nichts macht, weil sie häßlich ist, so gibt es für ihn nur ein einziges Mittel, seinen Frieden zu behalten: er überläßt seiner Frau die Verwaltung seines Vermögens. Dieses Opfer macht ihn frei. Jetzt ist die Frau beschäftigt, findet bald Geschmack an diesen Dingen, kümmert sich um die Pächter und Schuldner, berät sich mit den Anwälten, verhandelt mit dem Notar, keift mit den Schreibern, fühlt sich dabei als Herrin, kauft, verkauft, gewährt Zessionen, arrangiert alles, spart, verschwendet – kurz, sie macht Dummheiten, genießt aber das volle Glück persönlichen Lebens und findet darin ihren Trost. Ihr Mann verachtet sie, aber sie hat wenigstens die Genugtuung, ihn ruinieren zu dürfen.
Gillenormand hatte diese Theorie selbst in die Praxis umgesetzt, und so war er zu seiner Geschichte gekommen. Denn seine zweite Frau hatte sein Vermögen so verwaltet, daß Gillenormand eines Tages, Witwer geworden, gerade noch fünfzehntausend Franken Rente behielt, von denen sogar drei Viertel nur Leibrenten waren. Er kränkte sich nicht darüber, denn um seine Erben kümmerte er sich nicht. Übrigens lebte er in einer Zeit, die wußte, was aus Erbschaften werden konnte, zum Beispiel, daß sie zum Nationaleigentum erklärt wurden.
Sein Haus gehörte ja ihm. Er hielt sich zwei Bediente, »ein Mannsbild und ein Frauenzimmer«. Sooft er einen Dienstboten wechselte, gab er ihm einen neuen Namen. Die Männer nannte er nach ihrer Herkunft Nimois, Comptois, Poitevin, Picard. Sein letzter Diener war ein plumper, asthmatischer Kerl von fünfundfünfzig Jahren, der keine zwanzig Schritte laufen konnte, aber da er aus Bayonne war, nannte ihn Gillenormand Baske. Dagegen hießen alle seine weiblichen Dienstboten Nicolette. Eines Tages meldete sich bei ihm ein Ungetüm von Köchin, ein Monstrum aus der Rasse der Dienstboten.
»Wieviel verlangen Sie monatlich?« fragte Gillenormand.
»Dreißig Franken.«
»Wie heißen Sie?«
»Olympia.«
»Du kriegst fünfzig Franken, aber du heißt Nicolette.«
Zwei sind noch kein Paar
Gillenormands zwei Töchter waren in einem Abstand von zehn Jahren nacheinander geboren. In ihrer Jugend waren sie einander wenig ähnlich gewesen, schienen sowohl dem Charakter als dem Aussehen nach kaum Schwestern. Die Jüngere war ein liebenswürdiges Geschöpf, allem Lichten zugeneigt, schwärmerisch vernarrt in Blumen, Pferde und Musik; immer schwebte sie in höheren Regionen, war enthusiastisch, betete schon als Kind die Idealgestalt irgendeines Helden an. Auch die Ältere hatte ihre Schimäre. Das Azur ihres Himmels war ein Grossist, irgendein reicher Munitionslieferant, ein blöder, aber verschwenderischer Mensch; oder ein Präfekt. Frau Präfekt zu sein, hätte ihr auch gefallen.
So hatten beide Schwestern schon in ihrer Jugend ihre verschiedenen Ideale. Die eine strebte ihrem auf Engelsfittichen entgegen, die andere auf den Flügeln einer Gans.
Aber hier auf Erden findet kein Ehrgeiz restlose Befriedigung. Das Paradies ist nun einmal keine irdische Angelegenheit, und gar in unseren Zeiten! Die Jüngere hatte den Mann ihrer Träume geheiratet, aber sie starb bald. Die Ältere bekam keinen Mann.
Zu der Zeit, da sie in unsere Geschichte eintrat, war sie bereits eine etwas bejahrte Tugend, eine ungenießbare, prüde Person mit der spitzesten Nase und dem stumpfsten Verstand von der Welt. Ein charakteristisches Detaiclass="underline" außerhalb der engsten Familie wußte niemand ihren Vornamen. Sie ließ sich nur »das ältere Fräulein Gillenormand« nennen.
Was den cant anging, konnte sie es mit jeder Miß aufnehmen. Sie war das Schamgefühl in Person. Die entsetzlichste Erinnerung ihres Lebens war, daß ein Mann einmal ihr Strumpfband gesehen hatte.
Das Alter hatte diese erbitterte Schamhaftigkeit noch gesteigert. Ihr Brusttuch war nie dunkel genug und reichte nie hoch genug. Stecknadeln brachte sie überall an, wo kein Mensch hinsehen wollte. Es ist eigentümlich für die Prüderie, daß sie überall Schildwachen aufstellt, wenn die Festung auch gänzlich unbedroht ist.
Erkläre, wer kann, daß sie sich ohne Mißfallen von einem jungen Offizier der Lanzenreiter, ihrem Großneffen Théodule, küssen ließ.
Sie hatte eine Freundin, eine nicht minder eifrige Kirchgängerin und alte Jungfer, des Namens Mademoiselle Vaubois; ein vollkommen schwachsinniges Geschöpf, neben dem Fräulein Gillenormand noch als Genie gelten konnte. Vom Agnus Dei und Ave Maria abgesehen, hatte Fräulein Vaubois nur Ansichten über die verschiedenen Methoden, Früchte einzumachen. Sie war ein Musterstück ihrer Art.
Wir müssen einräumen, daß Fräulein Gillenormand mit zunehmendem Alter eher gewann. Eigentlich bösartig war sie ja nie gewesen, und das ist ja fast schon Güte; ihre Krallen waren von den Jahren abgestumpft worden, sie war jetzt auf eine seltsame Weise traurig, ohne selbst recht den Grund angeben zu können. Ihr ganzes Wesen war Staunen über ein Leben, das zu Ende ging, bevor es begonnen hatte.
Sonst gab es im Hause nur noch ein Kind, einen kleinen Jungen, dem es die Rede verschlug, wenn Gillenormand nur in die Nähe kam. Der sprach nur streng, ja sogar mit erhobenem Stock zu dem Kleinen.
»Hierher, Herr Schlingel, vorwärts, Lausejunge! Antworte, Bengel! Daß ich dich mal zu sehen kriege, Strabanzer!«
Und er vergötterte den Jungen. Es war sein Enkel.
Zweites Buch
Großpapa und Enkel
Ein Salon von Anno dazumal
Als Gillenormand noch in der Rue Servandoni wohnte, frequentierte er einige sehr gute, höchst exklusive Salons. Obwohl er selbst ein Bürgerlicher war, hatte er dort Zutritt. Er war klug, doppelt klug, denn einmal besaß er seine wirkliche Klugheit, dann aber auch jene, die man ihm nur zutraute – und darum war er sogar gesucht. Und er ging nur in ein Haus, in dem man ihm eine dominierende Rolle bewilligte. Es gibt Leute, die um jeden Preis Einfluß haben wollen und verlangen, daß man sich mit ihnen beschäftigt. Wenn sie nicht als Orakel den Ton angeben können, so wollen sie es wenigstens als Possenreißer. Gillenormand gehörte nicht zu diesen Leuten. Um in den royalistischen Salons, die er besuchte, zu herrschen, legte er seiner Selbstachtung keine Opfer auf. Überall war er das Orakel.
Gegen 1817 brachte er mit unumstößlicher Regelmäßigkeit wöchentlich zwei Nachmittage im Hause seiner Nachbarin, der Baronin de T. zu, einer respektablen Dame, deren Gatte unter Ludwig XVI. Botschafter in Berlin gewesen war. Der Baron war während der Revolution als Emigrant gestorben und hinterließ seiner Gattin, als begeisterter Anhänger des Magnetismus, nichts weiter als zehn in rotes Maroquinleder gebundene handschriftliche Werke – seine höchst erstaunlichen Betrachtungen über Mesmer. Madame de T. hatte, um ihrer Würde nichts zu vergeben, darauf verzichtet, dieses Werk der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, und lebte von einer kleinen Rente, die ihr von irgendwo, Genaueres wußte man darüber nicht, zufloß. Zum Hofe unterhielt sie keine Beziehungen, weil ihr die Gesellschaft dort zu gemischt war. Einige ihrer Freunde versammelten sich zweimal wöchentlich um den Kamin ihres Witwensitzes und bildeten so einen höchst royalistischen Salon. Man trank Tee, stieß, je nachdem, ob die Zeitstimmung gerade elegisch oder dithyrambisch war, Seufzer oder Entrüstungsschreie aus über das Jahrhundert, über die Verfassung, über die Bonapartisten, über die Prostitution des Blauen Bandes durch seine Verleihung an Bürgerliche, über den Jakobinismus Ludwigs XVIII.; und man unterhielt sich leise über die Hoffnungen, zu denen Seine Königliche Hoheit, der spätere Karl X., berechtigte, hörte mit Entzücken Gassenhauer, in denen Napoléon Nicolas genannt wurde. Herzoginnen, die zartesten und reizendsten Frauen der Welt, gerieten außer sich vor Vergnügen über ordinäre Spottlieder. Dumme Kalauer, die man furchtbar zynisch fand, erregten Sensation.