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Er hatte nur einen alten blauen Rock, aber niemals ging er aus, ohne die Rosette des Offiziers der Ehrenlegion anzustecken. Der Prokurator des Königs ließ ihm mitteilen, daß er wegen unberechtigten Tragens dieser Auszeichnung zur Rechenschaft gezogen würde. Pontmercy antwortete dem Überbringer dieser Botschaft mit bitterem Lächeln:

»Entweder verstehe ich nicht mehr Französisch, oder Sie sprechen es nicht richtig; jedenfalls begreife ich nicht.«

Dann ging er acht Tage lang mit seiner Rosette aus. Man wagte nicht, ihn zu behelligen. Zwei- oder dreimal sandte er dem Kriegsminister und dem Departementkommandanten Briefe zurück, auf denen er Major Pontmercy tituliert wurde. Er handelte darin nicht anders als Napoléon, der auf Sankt Helena Briefe des Sir Hudson Lowe an den »General Bonaparte« zurückwies.

Einmal begegnete er auf der Straße dem Prokurator, ging auf ihn zu und sagte:

»Herr Prokurator des Königs, ist es mir erlaubt, meine Narbe zu tragen?«

Er besaß nichts als den sehr kläglichen Halbsold eines Eskadronchefs. In Vernon hatte er das kleinste Häuschen gemietet, das man dort finden konnte. In der Zeit des Kaiserreichs hatte er einmal, zwischen zwei Kriegen, einen Urlaub benützt, um Fräulein Gillenormand zu heiraten. Der alte Großbürger war verärgert, mußte aber schließlich mit einem Seufzer dareinwilligen und sagen: »Sogar die größten Familien bringen Opfer.« 1815 war Frau Pontmercy, übrigens eine bewunderungswerte, hochgebildete und ihres Gatten würdige Dame, gestorben. Sie ließ ein Kind zurück. Dies Kind war die Freude des Obersten, aber sein Schwiegervater verlangte den Enkel energisch zurück und erklärte, daß er ihn, wenn er ihm nicht ausgehändigt würde, enterben werde. Im Interesse des Kleinen hatte der Vater nachgegeben und versucht, in den Blumen einigen Ersatz zu finden.

Übrigens hatte er allem entsagt, nahm weder an Verschwörungen noch an legalen Bewegungen teil. Nur unschuldige Dinge beschäftigten ihn; sonst lebte er in seiner Vergangenheit. Er pflegte eine Rose oder träumte von Austerlitz.

Gillenormand unterhielt keinen Verkehr mit ihm. Für ihn war der Oberst nur ein Bandit, während er für den Obersten ein Spießbürger war. Gillenormand sprach nie von dem Obersten, es sei denn, um sich über seine Baronie lustig zu machen. Man hatte verabredet, daß Pontmercy keinen Versuch unternehmen würde, seinen Sohn zu sehen oder mit ihm zu sprechen. Die Gillenormands wollten den Jungen nach ihren Anschauungen erziehen. Vielleicht hatte der Oberst Unrecht getan, solche Bedingungen anzunehmen, aber er hatte geglaubt, seinem Sohn zu nützen und nur sich selbst ein Opfer aufzuerlegen.

Das Erbe des alten Gillenormand war nicht beträchtlich, aber Fräulein Gillenormand konnte ein großes Vermögen hinterlassen. Diese jungfräulich gebliebene Tante war von ihrer Mutter her reich, und ihr Neffe war ihr natürlicher Erbe. Das Kind, das den Namen Marius trug, wußte wohl, daß es einen Vater besaß, aber nicht mehr. Niemand äußerte etwas darüber. Aber in der Gesellschaft, in die der Großvater es führte, gab es ein ewiges Flüstern, Tuscheln und Augenzwinkern, und aus allen diesen Äußerungen, die er aufschnappte, konnte der Knabe sich ein Bild von seinem Vater zusammensetzen. Jetzt dachte er nur mehr mit dem Gefühl der Beschämung an ihn.

Während er so heranwuchs, kam der Oberst alle zwei oder drei Monate einmal heimlich nach Paris, wie ein Verbrecher, der aus seinem Gefängnis entspringt, und begab sich zur Stunde, da die Tante Gillenormand Marius zur Messe führte, nach Saint-Sulpice. Zitternd vor Angst, die Tante könnte sich umwenden, verborgen hinter einem Pfeiler, lauerte er und beobachtete seinen Jungen. Dieser alte Soldat mit der Narbe fürchtete sich vor einer alten Jungfer.

So entstand auch seine Bekanntschaft mit dem Pfarrer von Vernon, dem Abbé Mabeuf.

Dieser wackere Priester war der Bruder des Kirchenältesten von Saint-Sulpice, dem der Mann mit der Narbe auf der Wange und den Tränen in den Augen mehrmals aufgefallen war. Dieser Mann, der so männlich aussah und wie eine Frau weinte, hatte den Kirchenältesten in Staunen versetzt. Er hatte sein Gesicht im Gedächtnis behalten, und als er eines Tages in Vernon seinen Bruder besuchte, begegnete er dort Pontmercy. Er sprach mit dem Pfarrer davon, und die beiden machten dem Obersten unter irgendeinem Vorwand einen Besuch. Weitere Besuche folgten. Der Oberst war zuerst sehr verschlossen gewesen, ging aber später aus sich heraus, und schließlich erfuhr der Kirchenälteste, wie Pontmercy sein Glück der Zukunft seines Sohnes geopfert hatte. Der Pfarrer faßte eine große Zuneigung zu dem Oberst, die erwidert wurde. Inzwischen war der Salon der Baronin T. alles, was der junge Marius Pontmercy von der Welt sah. Ein düsteres Fenster, durch das man eher Ausblick auf Kälte denn auf Wärme, eher auf die Nacht denn auf den Tag gewann. Das Kind war seiner Natur nach heiter veranlagt, aber es wurde bald trübsinnig und ernster, als es seinem Alter anstand.

Wie alle jungen Leute, mußte er irgend etwas studieren. Als Tante Gillenormands Weisheit nicht mehr ausreichte, wurde er einem würdigen Lehrer anvertraut, einem Manne von höchster klassischer Unschuld. Die junge Seele wechselte von einer alten Jungfer zu einem ledernen Schulmeister hinüber. Marius kam auf das Gymnasium, schließlich studierte er Jura. Er war Royalist von strengster Observanz. Seinen Großvater, dessen Heiterkeit und Zynismus ihm mißfiel, konnte er nicht leiden, und an seinen Vater dachte er nur ungern.

Übrigens war er feurig und kalt, vornehm, großmütig, stolz, exaltiert, rechtschaffen bis zur Härte gegen sich selbst, rein bis zur Absonderlichkeit.

Der Tod des Banditen

Ungefähr zur selben Zeit, da Marius seine Studien beendete, zog sich Gillenormand endgültig aus der Gesellschaft zurück. Der Greis sagte dem Faubourg-Saint-Germain adieu, verabschiedete sich von Madame de T. und übersiedelte in sein Haus in der Rue des Filles-du-Calvaire. Seine Dienerschaft entließ er und beschränkte sich auf Nicolette und den Basken, die wir bereits dem Leser vorgestellt haben.

1827 sollte Marius siebzehn Jahre alt werden.

Als er eines Abends nach Hause kam, trat ihm sein Großvater mit einem Briefe entgegen.

»Marius«, sagte er, »du fährst morgen nach Vernon.«

»Wozu?«

»Du mußt deinen Vater besuchen.«

Marius fuhr zusammen. Alles, nur dies nicht hatte er erwartet, daß er seinen Vater jemals von Angesicht zu Angesicht sehen sollte. Die Vorstellung kam ihm unerwartet und war ihm peinlich. Er empfand nicht ein Bedauern, er fühlte sich gedemütigt.

Marius war, von seinen politischen Gefühlen abgesehen, überzeugt, daß sein Vater, der Säbelraßler, wie ihn Gillenormand nannte, ihn nicht liebe; das war doch schließlich klar, denn wie hätte er sonst seinen Sohn verlassen und anderen anvertrauen können. Marius glaubte sich nicht geliebt und liebte nicht.

Er war so verblüfft, daß er Gillenormand fragte.

»Er ist, scheint es, krank. Er verlangt nach dir«, sagte der Großvater. »Reise morgen früh. Ich glaube, von der Cour des Fontaines geht um sechs Uhr früh ein Wagen ab, der abends ankommt. Nimm diesen.«

Damit zerknitterte er den Brief und steckte ihn in die Tasche.

Marius hätte auch am Abend reisen und schon am nächsten Morgen bei seinem Vater sein können. Eine Postlinie versah damals den Nachtdienst nach Rouen und berührte Vernon. Aber weder Gillenormand noch Marius dachten daran, sich zu erkundigen.

Am Abend des nächsten Tages kam der junge Mann nach Vernon. Man war gerade dabei, die Kerzen anzuzünden. Er fragte den erstbesten, wo das Haus des Herrn Pontmercy sei. Er war ein Parteigänger der Restauration und wollte seinem Vater weder den Oberstenrang noch die Baronie bewilligen.

Man zeigte ihm das Haus. Er schellte, und eine Frau, die eine kleine Lampe in der Hand hielt, öffnete.

»Wohnt hier Herr Pontmercy?«

Die Frau antwortete nicht.