Diese Beschäftigung nahm seine ganze freie Zeit, all seine Gedanken in Anspruch, so daß er sich bei den Gillenormands kaum mehr blicken ließ. Bei den Mahlzeiten erschien er; suchte man ihn später, so war er fort. Die Tante murrte. Papa Gillenormand lächelte.
»Na, er kommt jetzt in die Zeit«, sagte er. »Teufel, der legt sich aber ins Zeug! Mir scheint, das ist eine wahre Leidenschaft.«
Gleichzeitig vollzog sich in Marius eine vollständige geistige Wandlung. Die Geschichte, die er studierte, wurde ihm eine neue Wahrheit.
Zuerst blendete sie ihn. Republik, Kaiserreich, alles das waren für ihn bisher nur Worte gewesen. Die Republik – eine Guillotine in der Dämmerung, das Kaiserreich ein Säbel in der Nacht. Wo er nur Finsternis zu finden glaubte, hatte er mit unerhörtem Staunen, in das sich Furcht und Freude mischte, edle Sterne erstrahlen sehen. Er wußte nicht, wohin er geraten war. Der Glanz des Ruhmes blendete ihn. Sobald die erste Verwunderung vorüber war, gewöhnte er sich daran, er begann wieder klar zu sehen und prüfte die Gestalten der Geschichte unvoreingenommen. Jetzt nahmen Republik und Kaiserreich neue Gestalten an. Beide stellten gewaltige Taten dar. Die Republik bedeutete die Wiedereroberung der Menschenrechte durch das Volk, das Kaiserreich den Siegeszug der französischen Idee durch Europa. Er sah in der Revolution die gewaltige Erscheinung des Volkes, im Kaiserreich die Riesengestalt Frankreichs sich aufrecken. Und er begriff, daß dies alles gut gewesen sei.
Plötzlich war ihm klar, daß er bis zu diesem Augenblick weder sein Land noch seinen Vater begriffen hatte. Weder sein Land noch seinen Vater hatte er gekannt, hatte in einer Art freiwilliger Blindheit gelebt.
Jetzt beklagte er, daß er nur mehr vor einem Grabe sagen konnte, was seine Seele bedrückte. Der Kummer darüber ließ ihm keine Ruhe, jeder Atemzug war ein Seufzen, und er wurde strenger, ernster und seines Glaubens sicherer. Immer neue Erkenntnisse erschlossen sich ihm. Es war ein einziges großes, inneres Wachsen.
Als dieser geheimnisvolle Prozeß beendigt war, der aus einem »Ultra« und Bourbonenanhänger einen Royalisten, einen Revolutionär, Demokraten, ja sogar Republikaner gemacht hatte, ging er zu einem Kupferstecher auf dem Quai des Orfèvres und bestellte hundert Visitenkarten auf den Namen:
Baron Marius Pontmercy.
Das war nur die logische Folgerung des Wandels, der sich in ihm vollzogen hatte und der von seinem Vater ausging. Da er aber keine Bekannten hatte und seine Karten doch nicht bei Pförtnern abgeben konnte, behielt er sie in der Tasche.
Eine weitere natürliche Folge dieser inneren Wandlung war, daß er sich im Ausmaße, in dem er seinem Vater näherkam, von seinem Großvater entfernte. Wir haben bereits gesagt, daß Gillenormands Charakter ihm unangenehm war. Die Heiterkeit des Geronten widerstrebt der Melancholie eines Werther. Solange gemeinsame politische Anschauungen die beiden verbanden, konnte Marius Gillenormand auf einer Brücke entgegenkommen. Jetzt war die Brücke eingestürzt, eine Kluft trennte die beiden. Insbesondere aber empörte es Marius, daß es ja Gillenormand war, der ihn aus albernen Gründen mitleidlos von seinem Vater getrennt hatte.
Doch ließ er von allem nichts merken. Nur wurde er immer kälter. Bei den Mahlzeiten war er lakonisch, im Hause sah man ihn selten. Wenn seine Tante murrte, war er höflich und entschuldigte sich mit Studien, Examen, Vorträgen und Kursen.
Auf einer seiner kleinen Reisen war er nach Montfermeil gekommen, um dem Wunsch seines Vaters zu folgen, und hatte den alten Sergeanten von Waterloo, den Herbergswirt Thénardier, gesucht. Thénardier war in Konkurs gegangen, und man wußte nicht, was aus ihm geworden war. –
»Weiß Gott«, sagte der Großvater, »er schlägt über die Stränge!«
Man glaubte bemerkt zu haben, daß er auf der Brust unter dem Hemd einen Gegenstand trug, der an einem schwarzen Bande hing.
Irgendein Frauenzimmer
Wir sprachen schon von einem Lanzenreiter.
Das war ein Großneffe des Herrn Gillenormand, der fern von der Familie und allen häuslichen Herden ein Garnisonleben führte. Leutnant Théodule Gillenormand erfüllte alle Bedingungen, die nötig sind, um für einen hübschen Offizier zu gelten. Er hatte eine Taille wie ein Mädchen, eine fabelhafte Art, den Säbel zu schleppen, und einen Mordsschnurrbart. Er kam sehr selten nach Paris. So selten, daß Marius ihn noch nie gesehen hatte. Théodule war, wie wir wohl schon angedeutet haben, der Günstling der Tante Gillenormand.
Eines Morgens war Fräulein Gillenormand die Ältere so erregt, wie sie nur sein konnte. Marius hatte schon wieder von seinem Großvater Urlaub zu einer kleinen Reise erlangt. Auch sie glaubte jetzt an ein mehr oder weniger lasterhaftes Abenteuer, an eine dunkle Frauengeschichte, und sie beschloß, die Sache unter ihre Brille zu nehmen. Einem Geheimnis nachzuspüren – das ist auch für Heilige ein Vergnügen. Bigotterie und Freude am Skandal sind oft verbündet.
Sie war also die Beute wilder Neugierde.
Eben beschäftigt, mit einer mühsamen Handarbeit ihre Nerven zu beruhigen, hörte sie, wie die Tür geöffnet wurde. Sie hob die Nase, da stand Leutnant Théodule vor ihr und grüßte stramm. Man mag alt sein, prüde, gottergeben, Tante sogar, einen Lanzenreiter sieht man immer gern in seinem Zimmer.
»Du bist es, Théodule!«
»Auf der Durchreise, Tante.«
»Umarme mich!«
Er gehorchte. Tante Gillenormand trat zu ihrem Sekretär und schloß ihn auf.
»Du bleibst doch diesmal mindestens eine Woche?«
»Tantchen, ich reise heute abend.«
»Unmöglich!«
»Aber mit mathematischer Genauigkeit vorgezeichnet.«
»Aber wenn ich dich bitte, kleiner Théodule?«
»Das Herz sagt ja, die Marschroute nein. Die Sache ist einfach. Garnisonwechsel. Früher Melun, jetzt Gaillon. Halbenwegs Paris. Da dachte ich: Tante besuchen.«
»Hier hast du etwas für deine Mühe.«
Sie steckte ihm zehn Louisdor in die Hand.
»Sagen Sie doch für mein Vergnügen, Tantchen.«
Théodule umarmte sie noch einmal, und sie genoß das Vergnügen, sich den Hals von der Verschnürung seines Uniformkragens ritzen zu lassen.
»Reitest du zu Pferd mit dem Regiment?«
»Nein, Tante, ich habe eine besondere Route. Mein Diener führt das Pferd, ich reise mit der Post. Übrigens muß ich Sie etwas fragen.«
»Was denn?«
»Mein Vetter Marius Pontmercy reist auch?«
»Woher weißt du das?« fragte die Tante gespannt.
»Ich war gleich nach meiner Ankunft auf der Post und habe einen Platz belegt. Da sah ich auf der Liste seinen Namen.«
»Der schlechte Kerl! Ach, dein Vetter ist kein so ordentlicher Bursche wie du. Jetzt sitzt er die ganze Nacht in der Postkutsche!«
»Wie ich.«
»Aber du tust es, weil es deine Pflicht ist, er nur aus Lasterhaftigkeit.«
»Hoho«, sagte Théodule.
Jetzt hatte Fräulein Gillenormand eine Idee. Wäre sie ein Mann gewesen, hätte sie sich vor die Stirn geschlagen.
»Weißt du, daß dein Vetter dich nicht kennt?« fragte sie.
»Ich habe ihn einmal gesehen, aber er hat mich damals nicht seiner Aufmerksamkeit gewürdigt.«
»Ihr reist also zusammen?«
»Er auf dem Verdeck, ich im Coupé.«
»Und wohin?«
»Nach Andelys.«
»Also dorthin fährt Marius?«
»Wenn er nicht halbenwegs aussteigt. Ich für meinen Teil verlasse die Post in Vernon. Seine Route kenne ich nicht.«
»Denke dir nur, Marius! Was für ein scheußlicher Name! Was für eine Idee, ihn so zu nennen. Da ist doch Théodule viel schöner!«
»Ich möchte gerne Alfred heißen.«
»Hör mal, Théodule!«
»Ich höre ja, Tantchen.«