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»Marius bleibt oft von zu Hause fort. Macht Reisen.«

»Soso!«

»Er schläft außer Haus.«

»Oho!«

»Und wir möchten gerne wissen, was dahintersteckt.«

Mit tiefster Ruhe erwiderte Théodule:

»Irgendein Frauenzimmer.«

»Offenbar«, rief die Tante, die glaubte, Herrn Gillenormand zu hören. »Tu uns einen Gefallen. Geh dem Marius ein wenig nach. Er kennt dich ja nicht, du hast es leicht. Suche dieses Frauenzimmer zu sehen und sage uns, was es damit auf sich hat. Es wird dem Großvater Spaß machen.«

Théodule hatte keine große Neigung zu solchen Diensten, aber die zehn Louis hatten auf ihn einen großen Eindruck gemacht, und er dachte, man könne es auf eine Fortsetzung ankommen lassen. Darum nahm er den Auftrag an und sagte:

»Ganz wie Sie wünschen, Tante.«

Ich als Duenna, dachte er belustigt.

Fräulein Gillenormand schloß ihn in ihre Arme.

»Er ist nicht wie du, Théodule, du würdest so etwas nicht tun. Du folgst der Disziplin, hältst dich streng an die Vorschriften, bist ein Mann mit Gewissen und Pflichtgefühl. Du würdest nicht deiner Familie entlaufen, um solch ein Geschöpf zu sehen.«

Der Kavallerist schnitt ein Gesicht wie ein Gauner, der wegen seiner Ehrlichkeit gelobt wird.

Am selben Abend stieg Marius in die Postkutsche, ohne zu ahnen, daß er einen Wächter bekommen hatte. Dieser Wächter allerdings hatte zunächst nichts Wichtigeres zu tun, als einzuschlafen. Er gab sich dem Schlaf der Gerechten hin. Argus schnarchte eine Nacht lang.

Im Morgengrauen hörte er den Kondukteur rufen:

»Vernon! Pferdewechsel in Vernon! Die Reisenden für Vernon aussteigen!«

Er wurde munter.

»Richtig«, murmelte er, »hier muß ich ja heraus!«

Allmählich ordneten sich seine Gedanken, die Tante fiel ihm ein, er gedachte der zehn Louis und des Auftrags, über Marius Bericht zu erstatten. Er mußte lachen.

Wahrscheinlich ist er schon längst ausgestiegen, dachte er, während er seinen Uniformrock zuknöpfte. In Boissy, Triel, Meulan oder sonstwo. Lauf ihm nach, Tantchen! Was soll ich ihr nur schreiben, der braven Alten?

In diesem Augenblick wurden vor der Fensterscheibe des Coupés zwei schwarze Hosenbeine sichtbar, die gerade vom Verdeck herabkletterten.

Es war Marius.

Ein Bauernmädchen stand vor dem Wagen, zwischen Pferden und Postillons, und bot den Reisenden Blumen zum Kauf.

Marius trat zu ihr und kaufte die schönsten aus ihrem Korb.

Holla, dachte Théodule und sprang aus dem Coupé, das ist ja interessant! Was mag das nur für ein Weib sein, dem er solche Blumen bringt? Das muß ja ein Prachtexemplar sein, nach dem Bukett zu schließen. Das muß man sich anschauen!

Jetzt war es nicht mehr sein Auftrag, sondern die persönliche Neugierde, die ihn veranlaßte, Marius zu folgen; er war gewissermaßen ein Hund, der auf eigene Rechnung jagt.

Marius achtete nicht auf Théodule. Elegante Damen stiegen aus der Kutsche. Er würdigte sie keines Blickes. Er schien nichts zu sehen.

Er ist liebestoll, dachte Théodule.

Marius ging zur Kirche.

Fabelhaft, dachte Théodule, die Kirche! Ein Rendezvous, geschmackvoll mit einer Messe verbunden, läuft immer gut ab. Man macht den Frauen besonders schöne Augen, wenn der liebe Gott zusieht.

Aber Marius trat nicht ein. Er ging um die Kirche herum und verschwand hinter einem der Strebepfeiler der Apsis.

Aha, sie treffen sich draußen, meinte Théodule. Jetzt aufgepaßt!

Auf den Zehenspitzen schlich er näher. Plötzlich blieb er verblüfft stehen.

Marius kniete, den Kopf in den Händen vergraben, vor einem Grabhügel. Ein schwarzes Holzkreuz am Kopfende des Grabes zeigte die Aufschrift:

Oberst Baron Pontmercy.

Marius schluchzte.

Marmor gegen Granit

Leutnant Théodule verlor vollkommen die Fassung. Ein peinliches, unanalysierbares Gefühl bemächtigte sich seiner, eine Mischung aus Scheu vor dem Grabe und Respekt vor dem Oberst. Als er zurücktrat, war in seiner Bewegung etwas wie Disziplin. Hier trat ihm der Tod mit großen Epauletten gegenüber, fast hätte Théodule salutiert.

Er wußte nicht, was er der Tante schreiben sollte, und beschloß, überhaupt nichts zu tun. Vielleicht wäre aus Théodules Entdeckung gar nichts geworden, wenn nicht durch einen jener Zufälle, die das Schicksal so gern in das menschliche Leben streut, die Szene von Vernon fast unmittelbar in Paris eine Art Pendant gehabt hätte.

Marius kam am dritten Tage frühmorgens von Vernon zurück, ging in das Haus seines Großvaters und eilte sofort in sein Zimmer; zwei Nächte in der Postkutsche hatten ihn ermüdet, und er empfand das Bedürfnis, sich irgendwie, etwa durch einen Besuch in der Schwimmschule, zu erfrischen; darum nahm er sich nur knapp die Zeit, seinen Rock zu wechseln und das schwarze Band abzulegen, das er immer um den Hals trug; dann eilte er in das Bad.

Gillenormand stand wie alle rüstigen Greise frühzeitig auf. Er hatte seinen Enkel zurückkommen gehört und eilte, so rasch wie ihn seine alten Beine trugen, in das Zimmer Marius’ hinauf, um ihn zu begrüßen und ein wenig auszuhorchen.

Aber der Junge war schneller hinabgelaufen, als der Greis hinaufsteigen konnte, und als Vater Gillenormand in die Mansarde trat, war Marius schon fort. Das Bett war noch unberührt, der Rock und das schwarze Band lagen darauf. Offenbar hatte ihr Besitzer sie arglos hier liegenlassen.

Das ist mir noch lieber, dachte Gillenormand.

Einen Augenblick später trat er triumphierend in den Salon, in dem Fräulein Gillenormand saß und an einer Stickerei arbeitete, deren Muster an die Räder eines Kabrioletts erinnerten. In der einen Hand hielt er den Rock, in der anderen das Halsband.

»Wir haben gesiegt! Gleich werden wir in das Geheimnis eindringen: jetzt lernen wir die geheimen Wege des Lasters kennen! Hier haben wir den Roman, hier haben wir das Porträt!«

In der Tat hing an dem Bund ein kleines Täschchen aus schwarzem Leder, einem Medaillon nicht unähnlich.

Der Greis betrachtete es einige Zeit lang, ohne es zu öffnen, gierig, entzückt und mit der Wut eines armen verhungerten Teufels, vor dessen Augen ein wunderbares Souper angerichtet wird – aber nicht für ihn.

»Es ist bestimmt das Porträt. Auf solche Dinge verstehe ich mich. Das trägt man nun zärtlich auf dem Herzen. Sind diese Burschen blöde! Irgendeine alberne Stumpfnase jedenfalls, vor der einem übel wird – die jungen Leute haben heute gar keinen Geschmack mehr!«

»Laß sehen, Vater«, sagte die alte Jungfer.

Aber sie fanden nur ein sorgsam zusammengefaltetes Stück Papier darin.

»Sie an ihn«, lachte Gillenormand, »ein Billetdoux!«

»Ach, wir wollen es lesen«, sagte die Tante und setzte die Brille auf.

Sie entfalteten das Papier und fanden folgendes:

»An meinen Sohn!

Der Kaiser hat mich auf dem Schlachtfelde von Waterloo zum Baron gemacht. Da die Restauration mir den Titel, den ich mit meinem Blut erkauft habe, verweigert, soll mein Sohn ihn annehmen und tragen. Er wird gewiß seiner würdig sein.«

Was Vater und Tochter empfanden, läßt sich schwer wiedergeben. Es war ihnen zumute, als ob ihnen aus einem Totenkopf ein eisiger Hauch entgegenwehte. Sie sprachen kein Wort. Endlich murmelte Gillenormand:

»Es ist die Handschrift des Säbelraßlers.«

Die Tante prüfte das Schriftstück und steckte es dann wieder in das Etui.

Im selben Augenblick fiel ein kleines, rechteckiges Paketchen, in blaues Papier gewickelt, aus der Rocktasche. Fräulein Gillenormand hob es auf und nahm es aus dem Umschlag. Es waren die Visitenkarten Marius’. Gillenormand las:

Baron Marius Pontmercy.

Der Greis schellte. Nicolette trat ein. Gillenormand nahm das Band, das Etui und den Rock, warf alles mitten im Salon zu Boden und rief: