»Schaffen Sie das Zeug hinaus!«
Eine lange Stunde verstrich in tiefstem Schweigen. Vater und Tochter saßen in ihren Stühlen, kehrten einander den Rücken und dachten offenbar dasselbe. Nach einer Stunde sagte Tante Gillenormand endlich:
»Nette Sache, das!«
Kurz nachher erschien Marius. Schon auf der Schwelle bemerkte er, daß sein Großvater eine seiner Visitenkarten in Händen hielt; und im selben Augenblick begann der Alte mit dem ganzen überlegenen Hohn des Großbürgers zu schimpfen.
»Hoho, du bist jetzt Baron! Alle Achtung! Und was soll das bedeuten?«
Marius errötete leicht, dann antwortete er:
»Das bedeutet, daß ich der Sohn meines Vaters bin.«
Sofort hörte Gillenormand auf zu lachen und antwortete hart:
»Dein Vater bin ich.«
Mit niedergeschlagenen Augen und finsterer Miene antwortete Marius:
»Mein Vater war ein bescheidener und kühner Mann, der der Republik und Frankreich ruhmvoll gedient hat, Anteil genommen hat und groß war in dem herrlichsten Teil der Geschichte, der je von Menschen erlebt worden ist, ein Mann, der ein Vierteljahrhundert im Feldlager zugebracht hat, sich bei Tag dem Feuer der Gewehre und Kanonen, des Nachts dem Regen, Sturm und Schnee ausgesetzt hat, der zwei Fahnen eroberte, zwanzigmal verwundet wurde und elend und verlassen starb und der nur einen einzigen Fehler beging, nämlich den, zwei Undankbare allzusehr zu lieben, sein Land und seinen Sohn.«
Das war mehr, als Gillenormand ertragen konnte. Bei dem Wort Republik war er aufgestanden oder, besser gesagt, aufgefahren. Jedes Wort Marius’ übte auf das Gesicht dieses alten Royalisten dieselbe Wirkung aus wie ein Blasebalg auf glühende Kohlen. Er war purpurrot geworden.
»Marius«, brüllte er, »abscheulicher Junge, ich weiß nicht, wer dein Vater war, und ich will es nicht wissen! Nichts weiß ich, gar nichts, aber eins weiß ich, daß alle diese Kerle nur Schurken waren! Alle zusammen nur Bettler, Mörder, verfluchte Rotmützen, Diebsgesindel! Alle, sage ich, alle! Verstehst du? Du bist als Baron nicht mehr als mein Pantoffel! Alle waren sie Banditen, diese Schufte, die dem Robespierre dienten, alle Verräter, Verräter an ihrem rechtmäßigen König. Feiglinge, die vor den Preußen und Engländern in Waterloo davongerannt sind! Das weiß ich. Wenn dein Herr Vater einer von denen war, so will ich nichts davon wissen, und es ist schlimm genug.«
Jetzt war Marius Feuer und Gillenormand Blasebalg.
Der Junge zitterte an allen Gliedern, seine Stirn brannte. Endlich hob er die Augen, sah seinem Großvater starr ins Gesicht und brüllte:
»Nieder mit den Bourbons, nieder mit diesem fetten Schwein Ludwig XVIII.!«
Ludwig XVIII. war in diesem Augenblick bereits vier Jahre tot, aber das war ja gleichgültig.
Der Greis wurde jetzt ebenso weiß wie seine Haare. Zweimal ging er langsam und schweigend vom Kamin bis zum Fenster, so schwer, daß die Dielen krachten, wie eine Statue aus Stein. Jetzt neigte er sich zu seiner Tochter herab, die verschüchtert wie ein altes Schaf dasaß, und sagte mit einem fast ruhigen Lächeln:
»Ein Baron wie der Herr und ein Bürger wie ich können nicht unter dem gleichen Dach leben.«
Gleich darauf fuhr er wieder hoch und schrie, den Arm ausstreckend:
»Raus!«
Marius verließ das Haus.
Am nächsten Tage sagte Gillenormand zu seiner Tochter:
»Du schickst diesem Blutsauger halbjährlich sechzig Pistolen und sprichst niemals von ihm.«
Drittes Buch
Die Freunde des ABC
Anwärter auf die Weltgeschichte
Jene Zeit war nur scheinbar apathisch. Überall regten sich revolutionäre Instinkte. Der Geist von neunundachtzig und zweiundneunzig war wieder in der Luft. In der Jugend regte es sich. Ohne es selbst zu merken, folgten die Menschen dem Drang der Zeit, eine Wandlung vollzog sich in ihnen. Der Uhrzeiger, der unaufhaltsam vorschreitet, bewegte sich auch in den Seelen. Jeder tat seinen Schritt vorwärts, die Royalisten wurden liberal, die Liberalen Demokraten.
Es gab damals in Frankreich noch nicht jene gewaltigen Geheimorganisationen wie den Tugendbund in Deutschland und die Carbonari in Italien; aber im Dunkel rührte es sich bereits. Die Cougourd wurde in Aix gegründet; in Paris gab es unter anderen ähnlichen Bruderschaften dieser Art die Gesellschaft der Freunde des ABC.
Wer waren diese ABC-Leute? Eine Gesellschaft, die es sich angeblich zum Ziele gesetzt hatte, für die Kindererziehung zu wirken, in Wirklichkeit aber die Erweckung der Erwachsenen betrieb. Es waren ihrer nicht viele; eine Geheimgesellschaft, gewissermaßen noch im Embryonalzustand. In Paris hatte sie zwei Versammlungslokale, bei den Halles, eine Kneipe namens Corinthe, am Panthéon ein kleines Café, das Café Musain; Corinthe war das Versammlungslokal der Arbeiter, Café Musain das der Studenten.
Die regelmäßigen Zusammenkünfte der Freunde des ABC fanden in einem Hinterzimmer des Café Musain statt. Dieser Raum lag ziemlich abseits und wurde nur durch einen langen Gang mit zwei Fenstern und einem Seitenausgang nach der Rue de Grès mit den Geschäftsräumen verbunden. Hier rauchte, trank, spielte und lachte man. Laut unterhielt man sich über allerlei, leise über anderes. An der Wand hing, genügend, um den Spürsinn eines Polizeiagenten zu wecken, eine Karte der Republik Frankreich.
Die meisten Freunde des ABC waren Studenten, die mit den Arbeitern auf gutem Fuß standen. Die wichtigsten wollen wir nennen, denn sie gehören ja gewissermaßen der Geschichte an: Enjolras, Combeferre, Jean Prouvaire, Feuilly, Courfeyrac, Bahorel, Lesgle, oder Laigle, Joly, Grantaire. Untereinander waren diese jungen Leute eine große Familie, zusammengehalten durch die Bande der Freundschaft. Alle außer Laigle stammten aus dem Süden.
Einer unter diesen jungen Leuten war ein Kahlkopf.
Der Marquis d’Avarai, den Ludwig XVIII. zum Herzog gemacht hatte, weil er ihm am Tage seiner Flucht in den Wagen geholfen, erzählt in seinen Memoiren, daß der König 1814, als er in Calais an Land ging, einen Mann mit einer Bittschrift in Audienz empfing.
»Was wollen Sie?« fragte der König.
»Sire, eine Bestallung als Postmeister.«
»Wie heißen Sie?«
»L’Aigle.«
Der König runzelte die Stirn und warf einen Blick auf die Bittschrift, auf der der Name Lesgle geschrieben war. Diese antibonapartistische Orthographie gefiel ihm, und er mußte lächeln.
»Sire«, sagte der Mann, »einer meiner Ahnen war ein Hundewärter, dem gab man den Spitznamen Lesgueules, die Mäuler. Daraus wurde ein Familienname. Ich heiße eigentlich Lesgueules, zusammengezogen Lesgle und entstellt l’Aigle.«
Wieder mußte der König lachen. Später bekam jener Mann das Postamt von Meaux.
Der Kahle unter den Freunden des ABC war ein Sohn jenes Lesgle oder Lègle. Seine Freunde nannten ihn Bossuet.
Bossuet war ein lustiger Bursche, der sehr viel Pech hatte. Seine besondere Geschicklichkeit war es, nichts zuwege zu bringen. Und immer lachte er über sein Mißgeschick. Schon als Siebenundzwanzigjähriger war er kahl. Sein Vater hatte es bis zum Besitzer eines Hauses und eines Stücks Ackerland gebracht, aber der Sohn brachte es zuwege, falsch zu spekulieren und Haus und Grund zu verlieren. Nichts war ihm geblieben. Er besaß Geist und Kenntnisse, aber er wußte nichts damit anzufangen. Alles trog, alles täuschte ihn. Wenn er Holz spalten wollte, traf er seinen Finger. Glaubte er eine Geliebte zu haben, so mußte er bald bemerken, daß er durch sie auch einen Freund hatte. Immer passierte ihm etwas, immer war er jovial und lustig. Er sagte selbst von sich:
»Ich wohne unter einem Dach, dessen Ziegel sehr locker sitzen.«
Bossuet hält eine Leichenrede auf Blondeau
Eines Nachmittags stand Laigle aus Meaux gemütlich an den Türpfosten des Café Musain gelehnt. Er sah aus wie eine Karyatide auf Urlaub. Er trug nichts als seine träumerischen Gedanken.