So blickte er auf den Platz Saint-Michel hinaus. Seine Nachdenklichkeit hinderte weder ein Kabriolett vorüberzufahren, noch ihn selbst, davon Kenntnis zu nehmen. Laigle sah hin. In dem Gefährt saß ein junger Mann, der einen ziemlich umfangreichen Reisesack vor sich liegen hatte, und auf diesem Reisesack stand so groß, daß jedermann es lesen konnte:
Marius Pontmercy.
Dieser Name veranlaßte Laigle, seine Stellung zu verändern. Er wandte sich um und rief:
»Herr Pontmercy!«
Das Kabriolett hielt an.
Der junge Mann, der darin saß, schien ebenfalls in Gedanken versunken; jetzt blickte er auf.
»Nun?«
»Sind Sie Herr Marius Pontmercy?«
»Ohne Zweifel.«
»Ich suche Sie …«
»Wieso denn?« fragte Marius. »Ich kenne Sie doch gar nicht.«
»Ich Sie auch nicht.«
Marius glaubte es mit einem Spaßvogel zu tun zu haben, der ihn mitten auf der Straße mystifizieren wollte. Er war augenblicklich nicht bei Laune und runzelte die Stirn. Aber Laigle ließ sich nicht einschüchtern.
»Sie waren vorgestern nicht im Kolleg?«
»Wohl möglich.«
»Es ist nicht nur möglich, es ist sogar sicher, Herr.«
»Sind Sie Student?«
»Ja, so gut wie Sie. Vorgestern war ich zufällig dort. Sie wissen, man kommt manchmal auf solche Einfälle. Da kam der Professor auf die Idee, die Namen zu verlesen. Sie wissen wohl, die Herren scheuen manchmal nicht, sich auf diese Weise lächerlich zu machen. Wer zum drittenmal fehlt, wird von den Listen gestrichen. Sechzig Franken Gebühren sind beim Teufel.«
Marius war aufmerksam geworden.
»Es war Blondeau, der die Namen verlas. Sie kennen doch diesen Blondeau, diesen spitznasigen Bosngl, der sich einen Spaß daraus macht, die Schwänzer zu erwischen. Tückischerweise begann er mit dem Buchstaben P. Ich hörte nicht zu, denn beim P kann ich mich nicht kompromittieren. Es ging ganz gut, alle Welt war da. Blondeau tief betrübt. Blondeau, dachte ich, Geliebtes, heute erwischst du nichts. Da rief er gerade: Marius Pontmercy! Niemand antwortet. Blondeau wiederholt hoffnungsvolclass="underline" Pontmercy! Schon greift er nach der Feder. Herr, ich habe ein Herz, ich dachte: da soll einer hereinspringen, Vorsicht! Das ist ein anständiger Kerl, der nicht auf die Ordnung achtet. Kein Musterjunge. Kein Bursche mit Blei im Hintern, nicht so ein Stucker, Streber. Das ist ein ehrenwerter Faulpelz, der spazierengeht, etwas für die Natur übrig hat, der Kultur der Grisetten dient, den Schönen den Hof macht und vielleicht eben bei seiner Mätresse liegt. Retten wir ihn. Nieder mit Blondeau!
Der hatte jetzt die Feder eingetaucht, ließ seine Tigeraugen durch das Auditorium schweifen und rief zum drittenmaclass="underline" Marius Pontmercy! Da antwortete ich: ›Hier!‹ Und dadurch sind Sie auf der Liste geblieben.«
»Herr!« rief Marius.
»Dafür bin ich gestrichen worden«, versicherte Laigle aus Meaux.
»Das versteh ich nicht.«
»Nichts einfacher als das. Ich saß ganz vorn. Der Professor stierte mich an. Dieser Blondeau scheint eine Nase zu haben. Plötzlich springt er von P auf L über. L ist mein Buchstabe. Ich bin aus Meaux und heiße Lesgle.«
»Laigle«, unterbrach Marius, »welch schöner Name!«
»Kurz, dieser Blondeau kommt zu meinem schönen Namen und ruft: ›Laigle!‹ ›Hier!‹ rufe ich. Blondeau betrachtet mich mit jener Güte, die den Tigern eigentümlich ist, lächelt und sagt: ›Wenn Sie Pontmercy sind, sind Sie nicht Laigle.‹ Das ist eine Feststellung, an der Ihnen nichts liegen kann, für mich aber war sie unangenehm. Ich wurde gestrichen.«
»Aber, mein Herr, ich hin außer mir!«
»Vor allem«, unterbrach Laigle, »erbitte ich von Ihnen die Erlaubnis, über Herrn Blondeau einige Worte des Lobes äußern zu dürfen. Ich nehme an, daß er tot ist. Bei seiner Magerkeit und Blässe, bei seinem Geruch hat er nicht viel zu leisten, um diesen letzten Schritt zu tun. Und darum sage ich: Erudimini qui judicatis terram! Hier ruht Blondeau, Blondeau die Nase, Blondeau Nasica, der Disziplinochse, bos disciplinae, die Säule der Ordnung, der Engel der Namensverlesung, der gerecht, rechtschaffen, pünktlich, ehrenwert und abscheulich war. Gott hat ihn von der Liste gestrichen, wie er mich strich.«
»Aber ich bin verzweifelt …«
»Junger Mann«, sagte Laigle aus Meaux, »möge Ihnen dies eine Lehre sein, gehen Sie in Hinkunft pünktlicher ins Kolleg.«
»Ich bitte tausendmal um Entschuldigung!«
»Setzen Sie sich in Zukunft nicht der Gefahr aus, daß Ihr Nächster gestrichen wird.«
»Ich bin verzweifelt …«
»Und ich bin entzückt«, erwiderte Laigle. »Schon war ich im Begriff, jenen Abhang hinunterzurollen, an dessen tiefster Stelle man Advokat wird. Diese Streichung rettet mich. Ich entsage den Triumphen der Advokatur! Ich werde weder Witwen verteidigen, noch Waisen schädigen. Adieu, Toga, adieu, lange Konzipientenzeit! Das verdanke ich Ihnen. Selbstverständlich werde ich Ihnen eine feierliche Dankvisite abstatten. Wo wohnen Sie?«
»In diesem Kabriolett.«
»Ein Zeichen von Verschwendungssucht«, erwiderte Laigle ruhig. »Ich gratuliere. Dieses Zimmer kostet neuntausend Franken jährlich.«
In diesem Augenblick trat Courfeyrac aus dem Café.
Marius lächelte traurig.
»Ich bin erst vor zwei Stunden hier eingezogen und hoffe bald wieder heraus zu können; es ist die alte Geschichte, ich weiß nicht, wo ich hin soll.«
»Kommen Sie zu mir«, schlug Courfeyrac vor.
»Ich habe ältere Rechte«, bemerkte Laigle, »aber ich kann sie nicht geltend machen, da ich selbst keine Wohnung habe.«
»Schweig doch, Bossuet!« erwiderte Courfeyrac.
»Bossuet?« fragte Marius, »ich dachte, Sie hießen Laigle.«
»Laigle aus Meaux; nur metaphorisch Bossuet.«
Courfeyrac stieg in den Wagen.
»Kutscher«, rief er, »Hôtel de la Porte-St.-Jacques!«
Und am selben Abend bezog Marius in jenem Hotel das Zimmer neben Courfeyrac.
Marius wundert sich
Schon nach wenigen Tagen war Marius Courfeyracs Freund. Die Jugend ist die Zeit rascher Brüche und schneller Heilungen. Bei Courfeyrac konnte Marius frei aufatmen, und das war ihm neu. Man fragte ihn nichts. Er brauchte nicht an irgend etwas zu denken. Übrigens sagen ja in diesem Alter die Gesichter alles. Worte sind unnütz.
Eines Morgens fragte Courfeyrac ihn unvermittelt:
»Apropos, haben Sie eigentlich eine politische Meinung?«
»Na, wissen Sie«, meinte Marius fast beleidigt.
»Was sind Sie denn?«
»Bonapartistischer Demokrat.«
»Die Farbe der Mäuschen, die sich nicht mehr vor der Katze fürchten«, meinte Courfeyrac.
Und am nächsten Tag führte er ihn im Café Musain ein.
»Ich muß Sie mit der Revolution in Fühlung bringen«, flüsterte er beim Eintreten.
Marius wurde den Freunden des ABC vorgestellt:
»Ein Schüler.«
Er geriet in ein Wespennest der Geister. Bisher war er ein Einsiedler gewesen, der den Monolog pflegte, und darum war er zunächst verschüchtert, als er so viele junge Leute um sich sah. Das erregte Auf und Ab der Ideen verwirrte ihn. Manchmal verstiegen sie sich in Regionen, in die er ihnen kaum folgen konnte. Er hörte von Philosophie, Literatur, Kunst, Geschichte und Religion auf eine Weise sprechen, die ihn überraschte. Als er die Ansichten seines Großvaters mit denen seines Vaters vertauscht hatte, war er der Meinung gewesen, jetzt habe er eine Grundlage für sein Leben geschaffen. Beunruhigt, und ohne es sich recht einzubekennen, merkte er jetzt, daß er voreilig gewesen war. Wieder verschob sich der Gesichtswinkel, in dem er die Dinge sah. Er litt fast darunter.
Übrigens schien es, daß es für diese jungen Leute nichts Heiliges gab. Über alles wurde höchst sonderbar und in einer Weise gesprochen, die Marius’ schüchternen Geist verletzte. Niemand sagte hier: der Kaiser. Jean Prouvaire nannte ihn Napoléon, die andern sagten Bonaparte, Enjolras sogar Buonaparte. Marius wunderte sich. Initium sapientiae.