Als er das junge Mädchen das erstemal neben dem Greis sitzen sah, mochte sie dreizehn oder vierzehn Jahre alt sein; sie war mager, fast häßlich, linkisch und unbedeutend; vielleicht hatte sie schöne Augen, doch hielt sie diese mit einer Sicherheit, die mißfallen konnte, immer nach unten gerichtet. Gekleidet war sie kindlich und doch alt, wie Klosterzöglinge; ein schlechtgeschnittenes Kleid aus grober, schwarzer Merinowolle. Die beiden mochten wohl Vater und Tochter sein.
Zwei- oder dreimal sah Marius diesen alten Mann, der noch kein Greis, und dieses junge Mädchen, das noch keine Frau war, an, dann achtete er nicht mehr auf die beiden. Sie ihrerseits schienen ihn gar nicht bemerkt zu haben. Sie plauderten friedlich und fast gleichgültig miteinander. Das Mädchen plapperte heiter und ohne Unterlaß, der Alte sprach wenig, streifte das Kind aber zuweilen mit einem zärtlich-väterlichen Blick.
Obwohl diese beiden niemandes Blicke auf sich ziehen wollten, oder vielleicht gerade darum, hatten sie die Aufmerksamkeit von fünf oder sechs Studenten erregt, die zuweilen in jener Allee spazierengingen. Courfeyrac hatte sie einige Zeit beobachtet, fand das Mädchen aber häßlich und beeilte sich, aus ihrer Nähe zu verschwinden. Wie ein Parther war er aber nicht geflohen, ohne einen Pfeil auf sie abzuschießen: einen Spitznamen. Da ihn nur das schwarze Kleid der Kleinen und die weißen Haare des Alten interessiert hatten, nannte er das Mädchen Mademoiselle Lanoire und den Mann Monsieur Leblanc; und da niemand wußte, wie die beiden wirklich hießen, trat der Spitzname an die Stelle des echten. Die Studenten sagten wohclass="underline" »Ach, Herr Leblanc ist auf seiner Bank!«, und auch wir wollen der Bequemlichkeit halber diesen Namen beibehalten.
Marius begegnete diesen beiden ein Jahr lang fast täglich, fand den Mann angenehm, das Mädchen aber abstoßend.
Lux facta est
Im nächsten Jahr, also zu jenem Zeitpunkt, bis zu welchem wir den Leser bereits begleitet haben, geschah es, daß Marius, ohne dessen recht zu achten, nicht mehr nach dem Luxembourg ging; sechs Monate lang mied er seine Allee. Eines Tages kam er doch wieder dahin, an einem heiteren Sommermorgen, und er war vergnügt, wie man es nur bei gutem Wetter sein kann.
Sofort eilte er nach seiner Allee, und als er ankam, gewahrte er, immer noch auf derselben Bank, sein Paar. Doch war nur der Mann derselbe geblieben, das Mädchen schien ausgetauscht worden zu sein. Jetzt sah er ein erwachsenes, hübsches Geschöpf, das bereits die reizenden Formen der Frau zeigte, ohne indessen die naive Anmut der Kindheit verloren zu haben; dieser flüchtige Augenblick war gekommen, den man nur mit zwei Worten umschreiben kann: fünfzehn Jahre. Wunderschönes, kastanienbraunes Haar, das golden schimmerte, eine Stirn von Marmor, Wangen, die Rosenblättern glichen, ein unendlich blasser, zarter Teint, ein köstlicher Mund, von dem ein Lächeln wie ein Licht aufstrahlte, kurz, ein Kopf, den Raffael einer Maria und Jean Gojon einer Venus aufgesetzt hätte. Und damit nichts an diesem reizenden Gesichtchen fehlte, war die Nase nicht schön, sondern hübsch, weder gerade noch gebogen, weder italienisch noch griechisch, sondern eine echte Pariser Nase, etwas Feines, Geistvolles, Unregelmäßiges, das die Maler in Verzweiflung und die Dichter in Entzücken versetzt.
Als Marius an ihr vorüberkam, konnte er ihre Augen nicht sehen, denn sie blickte zu Boden. So bemerkte er nur ihre langen kastanienbraunen, schamhaften Wimpern.
Zunächst dachte Marius, es sei eine andere Tochter desselben Mannes, eine Schwester der ersten. Aber als die gewohnte Ordnung des Spaziergangs ihn ein zweites Mal an jener Bank vorüberführte, erkannte er, daß es dieselbe war. In sechs Monaten war das kleine Mädchen ein junges Mädchen geworden – eine sehr häufige Erscheinung. Denn es gibt einen Augenblick im Leben der Mädchen, wo sie sich plötzlich verwandeln und entfalten. Gestern waren sie noch Kinder, heute stören sie uns bereits in unserer Ruhe.
Diese war nicht nur größer, sondern auch schöner. Wie im April drei Tage genügen, um gewisse Bäume mit Blüten zu bedecken, so hatten ihr sechs Monate genügt, um sich in Schönheit zu kleiden. Ihr April war gekommen.
Wirkung des Frühlings
Eines Tages war die Luft lau, der Luxembourg-Garten lag freundlich in der Sonne, unter einem reinen Himmel, als ob die Engel den Morgen sauber gewaschen hätten; zwitschernd flogen die Sperlinge in den Kronen der Kastanienbäume hin und her.
Marius hatte seine ganze Seele der Natur aufgetan, dachte an nichts und atmete glücklich das strahlende Leben in sich ein, als er an jener Bank vorüberging; da sah das junge Mädchen auf, und die Blicke der beiden begegneten einander.
Was war nur diesmal in den Augen des jungen Mädchens? Marius hätte es nicht angeben können. Da war nichts, und doch alles: ein seltsames Licht.
Sofort blickte sie wieder nieder, und er setzte seinen Weg fort.
Was er gesehen hatte, war nicht das ahnungslose Auge eines Kindes gewesen, sondern eine geheimnisvolle Tiefe, die sich vor ihm öffnete und sofort wieder schloß.
Als Marius am selben Abend nach Hause kam, warf er einen Blick auf seine Kleider und bemerkte zum erstenmal, daß es höchst unpassend, ja sogar unerhört blöde sei, in diesem Alltagsaufzug zum Luxembourg zu gehen; mit einem zerbeulten Hut, plumpen Kutscherstiefeln, an den Knien blankgescheuerten Hosen und einem Rock, durch dessen Ärmel die Ellenbogen durchschauten.
Beginn einer schweren Krankheit
Am nächsten Morgen entnahm Marius zur gewohnten Stunde seinem Schrank den neuen Rock, die neue Hose, den neuen Hut und die neuen Stiefel; dann kleidete er sich in diese vollendete Tracht, zog, um den Luxus vollkommen zu machen, Handschuhe an und spazierte in den Luxembourg-Garten.
Unterwegs begegnete er Courfeyrac und tat, als ob er ihn nicht sähe. Zu Hause erzählte Courfeyrac seinen Freunden:
»Soeben begegnete ich Marius’ neuem Rock und Hut; Marius war drin. Offenbar ging er zum Examen. Er sah furchtbar dumm aus.«
Im Luxembourg angekommen, ging Marius zunächst um das Bassin herum und beobachtete die Schwäne; lange Zeit blieb er betrachtend vor einer Statue stehen, deren Kopf vom Moose geschwärzt und deren eine Hüfte ausgebrochen war. Endlich, nach einem neuen Rundgang um das Bassin, wandte er sich zu seiner Allee, langsam und fast widerstrebend. Es sah aus, als ob er gleichzeitig gezwungen und behindert sei, dahin zu gehen. Aber er legte sich nicht darüber Rechenschaft ab und glaubte nichts anderes zu tun, als was er alle Tage tat.
Als er in seine Allee einbog, gewahrte er sofort am anderen Ende »auf ihrer Bank« Herrn Leblanc und das junge Mädchen. Er knöpfte seinen Rock bis oben zu, zog ihn über seinem Körper straff, damit er keine Falten bilde, prüfte mit einem gewissen Wohlgefallen den Spiegel seiner Hosen und ging dann auf die Bank zu. In der Art, wie er auf sie zuschritt, lag etwas von Eroberertum. Er marschierte, möchte ich sagen, auf diese Bank zu, wie Hannibal auf Rom.
Im übrigen vollzog sich alles ganz mechanisch, es waren die gewöhnlichen Gedanken, die ihn beschäftigten. Er dachte in diesem Augenblick an das »Handbuch zur Erlangung des Baccalaureats« und kam zu dem Schluß, es sei dumm und offenbar von seltenen Idioten redigiert worden, da es zwar drei Tragödien des Racine, aber nur eine Komödie des Molière ausführlich behandelte. In den Ohren hatte er ein eigentümliches Pfeifen. Als er der Bank näher kam, zupfte er noch einmal seinen Rock zurecht, und seine Blicke richteten sich auf das junge Mädchen. Er hatte den Eindruck, als ob dieser ganze Teil der Allee in ein seltsam bläuliches Licht getaucht sei.