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Und Marius beachtete diese Symptome nicht. Einem schicksalhaften und naturgemäßen Fortschritt entsprechend, war er aus dem Stadium der Schüchternheit in das der Blindheit übergegangen. Seine Liebe wuchs. Nächtelang träumte er vor sich hin. Und endlich geschah ihm ein unerwartetes Glück, Öl auf sein Feuer, um ihn vollends zu verblenden. Eines Abends in der Dunkelheit fand er auf der Bank, von der Herr Leblanc und seine Tochter eben aufgestanden waren, ein Taschentuch, ein ganz gewöhnliches, unbordiertes Taschentuch, aber weiß und zart; ihm wenigstens schien es, als ob es einen herrlichen Duft ausströme. Begeistert steckte er es ein.

Dieses Taschentuch zeigte die Buchstaben U. F. Marius wußte nichts über dieses schöne Mädchen, weder ihren Namen noch ihre Wohnung; diese beiden Initialen waren das erste, was er von ihr erfuhr, wunderbare Initialen, auf die er allsogleich ein ganzes Gerüst der Vermutungen aufzurichten begann. U war offenbar der Vorname. Ursule, dachte er, wie köstlich ist dieser Name! Er küßte das Taschentuch, atmete seinen Duft ein und trug es an seinem Herzen, auf bloßer Brust, um es nachts an seine Lippen zu drücken.

Ihre ganze Seele duftet mir aus diesem Tuch entgegen, dachte er.

Es gehörte dem alten Herrn, dem es ganz einfach aus der Tasche gefallen war.

In den nächstfolgenden Tagen erschien Marius im Luxembourg nur mit jenem Taschentuch, das er immer wieder küßte und ans Herz drückte. Das schöne Kind begriff nicht und gab es ihm durch fast unmerkliche Zeichen zu verstehen.

Wie süß ist sie in ihrer Schamhaftigkeit, dachte er.

Mondfinsternis

Der Leser hat gesehen, wie Marius entdeckte oder entdeckt zu haben glaubte, daß sie Ursule hieß.

Liebende werden nie satt. Ihren Namen zu wissen, schien sehr wichtig, aber es war doch recht wenig. In drei oder vier Wochen hatte er das Glück aufgezehrt und wollte ein neues. Jetzt wollte er auch wissen, wo sie wohnte.

Schon hatte er einen Fehler begangen, als er in den Hinterhalt fiel und den beiden zu dem Gladiator folgte. Dann beging er einen zweiten: er blieb nicht im Luxembourg, wenn Herr Leblanc allein kam. Und jetzt den dritten, den ungeheuerlichsten: er ging Ursule nach.

Sie wohnte in der Rue de l’Ouest, in einer verkehrsarmen Gegend, in einem neuen, dreistöckigen, recht einfachen Hause.

Von jetzt an brauchte sich Marius nicht mehr darauf zu beschränken, ihr im Luxembourg zu begegnen, er konnte ihr auch nachgehen.

Er wurde immer hungriger. Er wußte, wie sie hieß, den Vornamen wenigstens, er wollte aber auch wissen, wer sie war.

Eines Abends, nachdem er ihr bis zu ihrem Hause gefolgt war, trat er ein und fragte tapfer den Portier:

»War das der Herr aus dem ersten Stock, der eben nach Hause kam?«

»Nein, der Herr aus dem dritten.«

Wieder ein Schritt vorwärts. Marius wurde kühner.

»Vorn heraus?«

»Das Haus hat keine Hinterfront.«

»Was ist der Herr?«

»Ein Rentner. Ein sehr guter Mensch, denn er hilft den Armen, obwohl er selbst nicht reich ist.«

»Wie heißt der Herr?«

Der Portier blickte auf.

»Sind Sie ein Spitzel?«

Marius zog verblüfft ab, war aber doch entzückt. Er hatte Fortschritte gemacht.

Gut, dachte er, sie heißt Ursule, ist die Tochter eines Rentners und wohnt hier, Rue de l’Ouest, im dritten Stock.

Am nächsten Tag kamen Herr Leblanc und seine Tochter nur für ganz kurze Zeit nach dem Luxembourg. Noch bei hellichtem Tage gingen sie wieder. Marius folgte ihnen wie gewöhnlich. Bevor Herr Leblanc eintrat, hieß er seine Tochter vorausgehen, wandte sich um und sah Marius starr an.

Am nächsten Tag kamen sie nicht in den Luxembourg. Marius wartete vergeblich bis zum Abend.

Als es dunkel war, ging er in die Rue de l’Ouest und sah Licht im dritten Stock. Nun ging er unter den Fenstern auf und ab, bis das Licht ausgelöscht wurde.

Am nächsten Tag – im Luxembourg nichts. Wieder Posten unter den Fenstern, Das dauerte bis zehn Uhr. Das Abendessen fiel unter den Tisch. Den Kranken nährt das Fieber, den Verliebten die Liebe.

So vergingen acht Tage. Marius erging sich in den traurigsten Vermutungen. Er wagte nicht, untertags das Haus zu beobachten. Nur nachts erkühnte er sich, bis in den rötlichen Schimmer der Fenster vorzudringen. Manchmal gewahrte er einen Schatten, und sein Herz schlug heftig.

Als er am achten Tag unter den Fenstern vorüberkam, bemerkte er kein Licht.

Ach, sie haben die Lampe noch nicht angezündet, meinte er, und doch ist es schon finster. Sollten sie ausgegangen sein?

Er wartete bis zehn. Bis Mitternacht. Bis ein Uhr morgens. Kein Licht erschien in den Fenstern des dritten Stocks, niemand betrat das Haus.

Trostlos ging er heim.

Als er am nächsten Tag wieder kein Licht sah, sogar bemerkte, daß die Jalousien herabgelassen waren, klopfte er an das Haustor und fragte den Portier:

»Der Herr aus dem dritten Stock –?«

»Ist ausgezogen.«

Marius taumelte.

»Seit wann denn nur?«

»Seit gestern.«

»Und wo wohnt er jetzt?«

»Ich weiß nicht.«

»Hat er denn nicht seine neue Adresse hinterlassen?«

»Nein.«

Jetzt erkannte der Portier Marius.

»Ach Sie sind es! Sie sind also doch ein Spitzel!«

Sechstes Buch

Der schlechte Arme

Marius sucht ein Mädchen mit einem Hut und findet einen Mann mit einer Mütze

Der Sommer verging, der Herbst; es wurde Winter.

Weder Leblanc noch das junge Mädchen hatten den Fuß wieder in den Luxembourg-Garten gesetzt. Marius dachte nur mehr darüber nach, wie er dieses sanfte, anbetungswürdige Gesicht wiedersehen könnte. Immer und überall suchte er, aber er fand nichts. Jetzt war er nicht mehr Marius der Schwärmer, der Enthusiast, der das Schicksal kühn in die Schranken forderte, der Mann, in dessen Kopf es schwirrte von Plänen, Ideen und Wünschen; jetzt war er wie ein Hund ohne Herrn. Er versank in düstere Traurigkeit. Es war aus. Die Arbeit widerte ihn an, das Spazierengehen ermüdete ihn, die Einsamkeit war langweilig; selbst die Natur, früher so überreich an Formen, Gestalten und Stimmen, schien ihm jetzt leer. Alles, dachte er, war verschwunden.

Wohl machte er sich Vorwürfe. Warum bin ich ihr nachgegangen, fragte er. War ich nicht glücklich, sie auch nur zu sehen? Sie erwiderte meinen Blick. War das nicht ein großes Glück? Es schien, sie liebte mich. Ist das nicht alles?

Ich war von Sinnen. Alles ist meine Schuld. –

Er hatte Courfeyrac nicht ins Vertrauen gezogen, das wäre nicht seine Art gewesen, aber der Student erriet fast alles – und das war seine Art –, und erst hatte er ihn beglückwünscht zu seiner Verliebtheit, dann aber, als Marius melancholisch wurde, hatte er gesagt:

»Aha, du hast die Sache dumm angefangen!«

Einmal hatte Marius eine Begegnung, die auf ihn einen tiefen Eindruck machte. Er hatte die Straßen rings um den Boulevard des Invalides durchquert und war einem Menschen begegnet, der wie ein Arbeiter angezogen war und eine Mütze mit langem Schirm trug, so daß man seine schneeweißen Haare kaum sehen konnte. Und doch war Marius betroffen gewesen von der Schönheit dieser weißen Haare und betrachtete aufmerksam den Mann, der langsam und wie in traurige Gedanken versunken einherging. Seltsam, er glaubte Herrn Leblanc zu erkennen. Es waren seine Haare, es war sein Profil, ja sogar die gleiche Haltung, nur trauriger. Was aber bedeuteten diese Arbeiterkleider? War das eine Verkleidung?

Marius war sehr erstaunt.

Als er wieder Fassung gewann, wollte er zunächst jenem Manne folgen, denn vielleicht war er doch auf der richtigen Fährte. Zum mindesten wollte er den Mann aus der Nähe ansehen und das Rätsel lösen. Aber dieser Gedanke kam ihm zu spät, der Mann war schon verschwunden. Er mußte in irgendeine Seitenstraße eingebogen sein. Einige Tage lang stand Marius unter dem Eindruck dieser Begegnung, dann vergaß er sie wieder.