Ein Fund
Noch immer wohnte Marius im Gorbeauschen Hause. Er achtete auf niemand.
Zu jener Zeit waren übrigens außer ihm und jener Familie Jondrette, mit der er bisher direkt noch nicht in Verbindung gekommen war, keine Mieter in dem Hause. Alle anderen waren fortgezogen, gestorben oder ausgemietet.
Auch den Jondrettes hatte 1831 das gleiche Schicksal gedroht; aber Frau Burgon hatte damals Marius davon erzählt, und er hatte den Leuten mit fünfundzwanzig Franken aus der Verlegenheit geholfen, jedoch unter der Bedingung, daß sein Name nicht genannt werde.
An einem Winternachmittag, an dem die Sonne sich ein wenig hervorgewagt hatte, verließ Marius sein Heim. Es war an der Zeit, zum Essen zu gehen, denn – Gebrechlichkeit der idealen Leidenschaften – auch der Körper fordert sein Recht.
Nachdenklich spazierte er den Boulevard zum Tore hinunter, um zur Rue Saint-Jacques zu gelangen. Plötzlich stieß ihn jemand an; er wandte sich um und sah zwei zerlumpte junge Mädchen, ein langes, mageres und ein anderes kleineres; atemlos und verängstigt liefen sie an ihm vorbei; er hatte den Eindruck, daß sie vor jemand flohen. Offenbar hatten sie ihn nicht gesehen. In der hereinbrechenden Dämmerung konnte er ihre Gesichter, ihre zerzausten Köpfe, ihre elenden Hüte, jämmerlichen Kleider und bloßen Füße immerhin noch wahrnehmen. Im Laufen sprachen die beiden miteinander. Die Größere sagte zu der Kleineren:
»Und schon war die Polente da. Aber bei mir haben sie vorbeigehauen.«
»Ich hab sie gleich gerochen. Dann bin ich abgeschaukelt.«
Marius erriet aus diesen Worten, so unbekannt ihm auch die Sprache war, daß die Gendarmen hinter den beiden Mädchen her gewesen waren, aber ohne sie zu fangen.
Die beiden verschwanden unter den Bäumen des Boulevards. Einen Augenblick lang sah Marius ihnen nach.
Eben wollte er weitergehen, als er zu seinen Füßen ein graues, kleines Paket liegen sah. Er bückte sich und hob es auf. Es war eine Art Karton, in dem allerlei Papiere zu stecken schienen.
Ah, sagte er, das haben diese armen Geschöpfe verloren!
Er wandte sich um und rief, aber vergeblich; offenbar waren sie schon weit. Also steckte er das Paket in die Tasche und ging essen.
Bald schlugen seine Gedanken wieder ihre gewöhnliche Richtung ein, und er träumte wieder von jenen sechs Monaten des Glücks und der Liebe, die er unter den schönen Bäumen des Luxembourg verbracht hatte.
Vierköpfig
Als er sich abends entkleidete, um zu Bett zu gehen, griff er in seine Rocktasche und fand darin das Paket, das er auf dem Boulevard aufgelesen hatte. Längst hatte er es vergessen. Er dachte, daß es nützlich sein werde, es zu öffnen, da er vielleicht so die Adresse der beiden jungen Mädchen erfahre und in die Lage versetzt würde, ihnen ihr verlorenes Eigentum zurückzubringen.
Also öffnete er den Karton. Er war nicht versiegelt und enthielt vier ebenfalls noch offene Briefe. Alle vier rochen nach scheußlichem Tabak.
Der erste war adressiert an die Frau Marquise de Grucheray, vis-à-vis dem Abgeordnetenhaus …
Marius dachte, daß er vielleicht in dem Brief die nötigen Anhaltspunkte finden werde, die er suchte, und daß er das Schreiben, das ja noch unverschlossen sei, wohl lesen dürfe. Das Schreiben hatte folgenden Wortlaut:
»Frau Marquise,
die Tugend der Milde und Barmherzigkeit ist es, die die menschliche Gesellschaft zusammenhält. Betätigen Sie Ihr christliches Gefühl und werfen Sie einen Blick des Mitleids auf einen unglücklichen Spanier, der ein Opfer seiner Königstreue und Anhänglichkeit an die geheiligte Sache der Gesetzlichkeit ist, wofür er mit seinem Blut bezahlt, sein Vermögen eingesetzt und verloren hat, alles um diese Sache zu verteidigen, und jetzt in unangenehmsten Verhältnissen ist. Er zweifelt nicht, daß Euer Gnaden ihm eine Unterstützung gewähren werden, eine Existenz weiterzuführen, die schon genug Unangenehmes für einen wohlerzogenen und ehrenhaften Offizier, gar mit Wunden bedeckt, und er zählt schon im voraus auf die Menschlichkeit, die in Ihnen lebendig ist, und auf das Interesse, welches die Frau Marquise für eine so unglückliche Nation empfindet. Unsere Bitte wird nicht vergeblich sein, und möge Ihnen unsere Dankbarkeit angenehm in Erinnerung bleiben.
Sehr ergeben habe ich die Ehre zu sein, Frau Marquise,
Ihr
Don Alvarez, spanischer Kavalleriehauptmann, flüchtiger Royalist auf Reisen im Interesse seines Vaterlandes, und augenblicklich ohne die Mittel, diese Reise fortzusetzen.«
Dieser Unterschrift war keine Adresse beigefügt. Marius hoffte, sie immerhin noch in dem zweiten Brief zu finden, der an die Frau Gräfin de Montvernet, Rue Cassette Nr. 9, gerichtet war. Marius las folgendes:
»Frau Gräfin,
es handelt sich um eine unglückliche Familienmutter von sechs Kindern, deren letztes erst acht Monate alt ist. Und dabei ich selber krank seit meiner letzten Niederkunft, seit fünf Monaten verlassen von meinem Mann, ohne Hilfe in schrecklicher Not.
In der Hoffnung auf die Frau Gräfin habe ich die Ehre, zu sein Ihre respektvollste
Frau Balizard.«
Jetzt las Marius den dritten Brief, der wie die andern eine Bittschrift enthielt: »Herrn Pabourgeot, Wähler, Strumpfwaren en gros, Rue Saint-Denis, Ecke Rue aux Fers.
Ich erlaube mir diesen Brief an Sie zu richten, um die Gunst Ihrer Simpatie und Ihr Interesse zu gewinnen für einen Schriftsteller, der eben ein Drama beim Théâtre Français eingereicht hat. Der Stoff davon ist historisch, und die Handlung spielt im Auvergne in der Kaiserzeit. Der Stil ist, glaube ich, natürlich, lakonisch, sehr verdienstvoll. An vier Stellen gibt es Sachen zum Singen. Komisches, Ernstes und Unvorhergesehenes mischen sich mit der Verschiedenheit der Charaktere, und die ganze Intrige, die recht misteriös vor sich geht, ist leicht romantisch, so daß durch verblüffende Überraschungen in effektvollen Szenen der Schluß herbeigeführt wird.
Mein besonderes Ziel ist, dem Bedürfnis der jetzigen Menschen nach der Art unseres Jahrhunderts zu dienen, also der Mode zu folgen, dieser launischen Wetterfahne, die sich immer nach jedem Wind dreht.
Trotz dieser Vorzüge habe ich Grund zu fürchten, daß die Eifersucht und der Egoismus der privilegierten Schriftsteller mir den Weg zum Theater verschließt, denn ich weiß, wie schwer man es den neuen Autoren macht.
Herr Pabourgeot, Ihr verdienter Ruf als Gönner der Lideraten macht mich so kühn, Ihnen meine Tochter zu schicken, die Ihnen unsere schwierige Situation erklären wird, denn es fehlt an Brot und Feuer, trotz Winter. Sie soll Ihnen sagen, daß Sie die Ehre annehmen sollen, mein Drama von mir gewidmet zu bekommen, und auch alle andern, die ich noch machen werde, und das wird Ihnen beweisen, wieviel ich von der Ehre halte, unter Ihrer Beschützung herauszukommen und meine Schriften mit Ihrem Namen zu zieren. Wenn Sie mich nur mit einer kleinen Unterstützung begünstigen wollen, werde ich auch ein Stück in Reimen schreiben, um Ihnen zu zeigen, wie dankbar ich bin. Es soll so schön wie möglich werden, und ich werde es Ihnen zuschicken, bevor es in Szene geht.
Herrn und Frau Pabourgeot ergebenster
Genflot, Schriftsteller.
P. S. Und wenn es auch nur vierzig Sous sind. Entschuldigen Sie, daß ich Ihnen meine Tochter schicke und mich nicht selbst vorstelle, aber ach, meine schlechten Toilettezustände erlauben es mir nicht.« Endlich öffnete Marius noch den vierten Brief. Er war an den wohltätigen Herrn aus der Kirche Saint-Jacques du Haut-Pas gerichtet.
»Wohltätiger Mann, wenn Sie meine Tochter begleiten wollen, werden Sie ein furchtbares Elend sehen, und ich zeige Ihnen auch meine Zeugnisse. Beim Anblick dieser Zeilen wird Ihre großmütige Seele wohlwollend gestimmt werden, denn die wahren Filosofen sind immer weichherzig. Geben Sie zu, mitleidiger Mann, daß man in gräßlicher Not sein muß und daß es peinlich ist, eine Unterstützung zu erbitten und sich von Amts wegen bestätigen zu lassen, daß man nichts hat, als ob es nicht jedermanns Recht wäre, zu leiden und zu hungern, bis einer uns hilft. Das Schicksal ist für manche sehr verschwenderisch und für die andern recht fatal.