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Ich erwarte Ihren Besuch oder Ihre milde Gabe, wenn Sie mir eine geben wollen, indem ich Sie bitte, meiner Hochachtung versichert zu sein, Ihr ergebener Diener

P. Favantou,

dramatischer Schauspieler.«

Nachdem Marius diese vier Briefe gelesen hatte, wußte er nicht viel mehr als zu Anfang. Keiner dieser Absender nannte seine Adresse. Und wenn deren auch viere genannt waren, ein Don Alvarez, eine Frau Balizard, ein Dichter Genflot und ein Schauspieler Favantou, war doch allen ein gemeinsamer schlechter Stil und die gleiche Handschrift eigen. Mußte man daraus nicht schließen, daß sie von einer einzigen Person herrührten?

Noch dazu waren alle auf demselben groben, gelblichen Papier geschrieben, rochen gleicherweise nach Tabak, und obwohl der Stil offensichtlich verschieden sein sollte, hatte sich doch der Schriftsteller Genflot ebensowenig von Schnitzern freihalten können wie der spanische Hauptmann.

Indessen war es wohl unnötige Mühe, über dieses kleine Geheimnis nachzudenken. Vielleicht hätte man die Briefe, wären sie nicht ein Fund gewesen, für einen schlechten Scherz halten können. Marius war in seiner Seele zu traurig, um sich an einem Scherz zu beteiligen, den er von der Straße aufgelesen hatte. Nichts deutete darauf hin, daß diese vier Briefe den jungen Mädchen gehörten, denen Marius auf dem Boulevard begegnet war. Offenbar war es belangloses Geschreibsel. Marius steckte es in den Karton, warf es in eine Ecke und legte sich zu Bett.

Gegen sieben Uhr morgens, als er aufstand und sich anschickte zu frühstücken, wurde leise an seine Türe geklopft.

»Herein!« rief Marius.

Die Tür ging auf.

»Was gibt es, Frau Burgon?« fragte Marius, ohne von dem Buch aufzublicken, das vor ihm aufgeschlagen lag.

Eine fremde Stimme antwortete ihm:

»Verzeihung, mein Herr …«

Es war eine heisere, schwache, gepreßte Stimme, die einem alten Mann gehören mochte, die Stimme eines Branntweintrinkers …

Marius wandte sich um und sah ein junges Mädchen vor sich.

Eine Rose im Elend

Ein blutjunges Mädchen stand in der Tür. Es war ein schwächliches, abgezehrtes, mageres Geschöpf; nur ein Hemd und ein Unterrock schützte seine Nacktheit gegen die Kälte. Spitze Schultern standen aus dem Hemde hervor, die Haut war blaß wie die von Schwindsüchtigen, das Schlüsselbein zeichnete sich deutlich ab; die Hände waren gerötet, der halbgeöffnete Mund zeigte Zahnlücken: so machte dieses junge Mädchen doch auch zugleich den Eindruck einer verderbten Frau.

Marius war aufgestanden, fast erschrocken über den Anblick dieser Erscheinung, die eher einem Schatten als einem lebenden Wesen glich.

Den tiefsten Eindruck vermittelte ihm vielleicht die Empfindung, daß dieses junge Mädchen nicht häßlich zur Welt gekommen war. In ihrer ersten Jugend mochte sie hübsch gewesen sein. Die Anmut ihres Alters rang noch mit dem abstoßenden, vorzeitigen Alter, das durch Not und Laster heraufbeschworen wird. Ein Rest der Schönheit einer Sechzehnjährigen war noch in diesem Gesicht.

Marius kannte es nicht. Doch glaubte er sich zu erinnern, daß er es irgendwann einmal gesehen hatte.

»Was wollen Sie?« fragte er.

Mit ihrer rauhen Stimme einer Trinkerin antwortete sie:

»Ein Brief für Sie, Herr Marius.«

Sie redete ihn mit Namen an; er konnte nicht daran zweifeln, daß sie wirklich ihn meinte, aber wer war sie? Und woher wußte sie seinen Namen?

Sie wartete nicht, bis er sie einlud, näher zu treten, sondern drang entschlossen und mit einer Sicherheit, die Marius unangenehm berührte, in das Zimmer ein; ihr Blick fiel auf das noch ungemachte Bett. Ihre Füße waren unbekleidet, und durch die Löcher in dem Unterrock konnte man ihre langen Beine und mageren Knie sehen. Sie zitterte vor Kälte.

Jetzt reichte sie Marius ihren Brief.

Als er ihn öffnete, bemerkte er, daß die Oblate noch feucht war. Offenbar kam diese Botschaft nicht aus weiter Ferne.

Er las:

»Liebenswürdiger Nachbar, junger Mann! Ich habe erfahren, daß Sie vor sechs Monaten so gütig waren, meine Miete für mich zu bezahlen. Ich segne Sie dafür, junger Mann. Meine ältere Tochter wird Ihnen sagen, daß wir seit zwei Tagen keinen Bissen Brot im Hause haben, und dabei sind wir vier Leute – und meine Frau ist krank. Wenn mich meine Hoffnung nicht trügt, darf ich von Ihrem großherzigen Sinn erwarten, daß diese Nachricht in Ihnen den Wunsch erregt, uns neuerlich einer kleinen Gabe zu würdigen.

Ich bin mit der ganzen Hochachtung, die man den Wohltätern der Menschheit schuldet

Jondrette. P. S. Meine Tochter erwartet Ihre Befehle, werter Herr Marius.« Dieser Brief war wie ein Licht in der Finsternis. Plötzlich lag das ganz dunkle Abenteuer, das Marius seit gestern abend beschäftigte, aufgehellt vor ihm. Offenbar kam dieses Schreiben aus derselben Quelle wie die andern vier. Die gleiche Handschrift, das gleiche Papier, derselbe Tabaksgeruch. Hier handelte es sich um fünf Sendschreiben, fünf verschiedene Geschichten, fünf Namen, fünf Unterschriften, und um einen einzigen Absender. Der spanische Hauptmann Don Alvarez, die beklagenswerte Mutter Balizard, der dramatische Dichter Genflot, der alte Schauspieler Favantou – sie alle waren nur Jondrette, sofern nämlich Jondrette wirklich Jondrette hieß. Alles war klar. Marius begriff, daß sein Nachbar Jondrette in seiner Not ein Gewerbe daraus machte, die Mildtätigkeit wohlwollender Leute auszunützen. Offenbar verschaffte er sich Adressen und schrieb unter allen möglichen Namen an Leute, die er für reich und mitleidig hielt; seine Töchter mußten diese Briefe auf eigene Gefahr bestellen, denn der Vater begriff wohl, daß er damit seine Töchter aufs Spiel setzte; er hatte seine Partie mit dem Schicksal und wollte sie offenbar als Trümpfe benützen.

Marius begriff auch, wenn er sich ihrer Flucht von gestern erinnerte, daß diese unglücklichen Geschöpfe irgendeinen dunklen Beruf ausübten und daß er es hier mit zwei Opfern der menschlichen Gesellschaftsordnung, zwei armen Geschöpfen zu tun hatte, die weder Kinder noch Mädchen, noch Frauen waren, sondern zugleich unreine Kreaturen und unschuldige Ausgeburten der Not. Namenlose ohne Alter und Geschlecht, unfähig zum Guten und zum Bösen, die bereits im Ausgang des Kindesalters weder Freiheit noch Tugend, noch Verantwortlichkeit besitzen. Gestern entfaltete Seelen, die heute schon welk sind und die Blumen gleichen, die man in den Straßenkot geworfen hat, und die da warten, bis das Wagenrad sie vollends zermalmt.

Während Marius sie mit einem verwunderten und zugleich schmerzlichen Blick betrachtete, ging das junge Mädchen mit seltener Unverfrorenheit in dem Zimmer auf und ab. Daß sie halb nackt war, schien sie kaum zu stören. Zuweilen rutschte ihr das zerrissene und elende Hemd fast bis zum Gürtel herab. Sie schob Stühle beiseite, nahm Toilettegegenstände, die auf der Kommode lagen, in die Hand, betastete Marius’ Kleider und durchsuchte die Winkel.

»Ach, Sie haben einen Spiegel!« rief sie.

Und sie begann vor sich hin zu singen. Aber unter ihrer Unverfrorenheit schimmerte doch etwas wie Unruhe und Beschämung durch. Ihre Frechheit war ihre Art sich zu schämen.

Marius ließ sie gewähren.

Endlich trat sie an den Tisch.

»Ach, Bücher!« sagte sie. »Ich kann auch lesen.« Und sie bückte sich über den aufgeschlagenen Band. »General Bauduin erhielt Befehl, mit den fünf Bataillonen seiner Brigade das Schloß Haugomont zu nehmen, das inmitten der Ebene von Waterloo … ach Waterloo«, unterbrach sie sich, »das kenne ich. Das war einmal eine Schlacht dort. Mein Vater war auch dabei. Der hat auch als Soldat gedient. Wir sind brave Bonapartisten, unter uns gesagt. Damals ging’s gegen die Engländer, in Waterloo.« Sie schlug das Buch zu und nahm eine Feder. »Schreiben kann ich auch. Wollen Sie sehen? Ich schreib hier etwas auf das Blatt, Sie sollen gleich sehen!«