Bevor er antworten konnte, hatte sie auf das Blatt geschrieben:
»Die Polente ist da.«
Dann legte sie die Feder wieder hin.
»Ganz ohne orthographische Fehler, das sehen Sie doch. Wir haben unsere Erziehung gehabt, meine Schwester und ich. Es war nicht immer so wie jetzt. Damals …«
Sie stockte, richtete einen erloschenen Blick auf Marius und sagte schließlich auflachend:
»Ach was! Ja, Sie gehen wohl auch manchmal ins Theater, Herr Marius? Ich auch. Ich habe einen kleinen Bruder, der steht mit den Schauspielern gut und schenkt mir manchmal Karten. Aber auf die Galerie geh ich nicht gern. Da sitzt es sich nicht gut. Oder man hat ganz dicke Leute neben sich, oder gar solche, die schlecht riechen. Sie sind übrigens recht hübsch, Herr Marius, wissen Sie das auch?«
Beide dachten im Augenblick wohl dasselbe, sie lächelte, und er errötete.
»Allerdings«, sagte sie und legte ihm die Hand auf die Schulter, »Sie sehen mich ja nicht an, aber ich kenne Sie wohl, Herr Marius. Manchmal treffe ich Sie auf der Treppe, oder manchmal, wenn Sie ausgehen, zum Beispiel zu diesem Herrn Mabeuf. Da komme ich auch vorbei. Die Wuschelhaare stehen Ihnen recht gut, wahrhaftig.«
Sie bemühte sich offenbar, ihre Stimme sanft klingen zu lassen, aber es gelang ihr nur, leise zu sprechen. Manche Worte gingen zwischen Kehlkopf und Lippen verloren, wie Töne auf einem Klavier, dem einige Tasten fehlen.
Marius war zurückgetreten.
»Fräulein«, sagte er kühl, »ich habe hier ein Paket, das, wie ich glaube, Ihnen gehört. Gestatten Sie, daß ich es Ihnen zurückgebe.«
Und er reichte ihr den Karton mit den vier Briefen.
Sie klatschte in die Hände und rief:
»Und wir haben es überall gesucht! Und Sie haben es gefunden! Auf dem Boulevard, nicht wahr? Im Laufen haben wir es verloren. Meine Schwester, dieses dumme Geschöpf, hat es verloren. Zu Hause haben wir es dann gesucht. Natürlich haben wir gesagt, daß wir die Briefe bestellt haben, denn sonst hätte es Prügel gesetzt, und das ist unnütz, ganz unnütz, vollkommen unnütz. Und wir haben gesagt, daß alle Leute uns geantwortet haben: Nix! Da sind jetzt die Briefe! Woraus haben Sie nur erkannt, daß sie mir gehören? Ach, an der Schrift wohl?«
Inzwischen hatte sie den Brief, der an den wohltätigen Herrn in der Kirche Saint-Jacques du Haut-Pas gerichtet war, entfaltet.
»Ach, das ist der an den alten Kirchgänger. Na, da komm ich ja noch zurecht. Ich werd ihn noch bestellen. Vielleicht springt dabei ein Frühstück heraus.«
Bei diesen Worten erinnerte sich Marius des Umstandes, dem er wohl den Besuch dieses Mädchens verdankte. Er griff in seine Tasche und fand darin fünf Franken und sechzehn Sous, alles, was er im Augenblick besaß. Nun, ich behalte mir etwas für ein Abendbrot, morgen wird man ja weitersehen, dachte er. Und er reichte dem jungen Mädchen die fünf Franken.
»Holla«, rief sie, »volle fünf Franken! In so einer Bude – Sie sind ja wirklich ein guter Junge. Bravo! Das ist ja eine ganze Menge! Das gibt was zu trinken, und Fleisch und alles mögliche noch!«
Sie zog das Hemd über die Schulter, verneigte sich tief vor Marius, winkte ihm dann vertraulich und wandte sich zur Tür.
»Guten Tag, mein Herr«, sagte sie, »meinen Alten werde ich ja auch noch erreichen.«
Dann ging sie.
Die Vorsehung läßt Marius einen Blick in ein fremdes Zimmer tun.
Gewiß hatte Marius in den letzten fünf Jahren in Not und Entbehrung gelebt, aber jetzt begriff er, daß er das wahre Elend noch nicht kannte. Das wahre Elend hatte er jetzt zu sehen bekommen.
Denn eines Mannes Elend kann nie vollständig sein, und wer ermessen will, was Elend ist, muß das furchtbare Elend einer Frau sehen, oder, noch furchtbarer, das des Kindes.
Marius machte sich Vorwürfe, daß er so lange seiner Träumerei nachgehangen hatte, ohne sich um seine Nachbarn zu kümmern. Daß er damals ihre Miete bezahlte, war eine mechanische Regung gewesen, deren sich auch ein anderer nicht erwehrt hätte; er, Marius, hätte mehr tun müssen. Ach, nur eine Wand trennte ihn von diesen Verlassenen, die tastend in der Nacht des Elends lebten, täglich ging er an ihnen vorüber, streifte sie fast, war vielleicht der einzige Mensch, mit dem sie in Berührung kamen, der ihren Atem, ihr Röcheln hörte – und er hatte ihrer nicht geachtet. Täglich, stündlich hatte er durch diese Mauer gehört, wie sie auf und ab gingen, sprachen, berieten – und hatte nicht gelauscht. Vielleicht waren ihre Worte Seufzer gewesen, er hatte sie nicht gehört. Seine Gedanken weilten anderswo, in unerreichbaren Sphären, bei Traumgebilden; und während diese menschlichen Geschöpfe, seine Brüder in Christo, seine Brüder aus dem Volke, neben ihm im Todeskampf lagen, in einem sinnlosen Ringen um das Leben, hatte er geträumt! Er war mitschuldig an ihrem Elend, er hatte es noch schlimmer gemacht. Hätten sie einen anderen Nachbarn gehabt, einen, der aufmerksamer war und nicht in Phantasien schwelgte, einen gewöhnlichen Menschen mit einem gesunden Herzen im Leibe, gewiß wäre ihr Jammer bemerkt worden, längst hätte man sie aus der Gosse aufgelesen und gerettet! Gewiß waren sie erniedrigt, verdorben, gemein, scheußlich sogar, aber wie selten verfallen Menschen der Not, ohne sich zu beschmutzen? Es gibt einen Zustand, in dem Schmach und Unglück dasselbe sind, und dieses eine Wort ›Die Elenden‹ bedeutet ja schon beides. Wessen Schuld ist das? Und muß nicht, je tiefer der Fall, um so größer auch das Mitleid sein?
Während Marius sich dies alles vorhielt und dabei, wie alle wahrhaft edlen Herzen, härter mit sich zu Gericht ging, als er verdiente, betrachtete er die Mauer, die ihn von den Jondrettes trennte, als ob sein Blick voll Mitleid durch diese Wand zu ihnen dringen und die Unglücklichen wärmen könnte. Es war eine dünne Wand aus Brettern und Balken, durch die man Geräusch und Stimmen aus dem Nachbarraum sehr wohl verstehen konnte. Man mußte ein Träumer wie Marius sein, um es nicht längst bemerkt zu haben. Fast unbewußt betrachtete Marius die Mauer. Plötzlich bemerkte er oben in der Wand, knapp unter der Decke, ein dreieckiges Loch, das zwischen drei Brettern freigeblieben war. Die dürftige Mörtelverkleidung war abgebröckelt, so daß Marius, wenn er auf seine Kommode stieg, bequem in das Zimmer der Jondrettes hinabblicken konnte.
Das Mitleid hat zuweilen das Recht, neugierig zu sein. Es ist erlaubt, das Elend zu belauschen, wenn man ihm zu Hilfe kommen will.
Marius stieg auf die Kommode und blickte durch das Loch in den Nachbarraum.
Das Raubtier in seiner Höhle
Die Höhlen der Raubtiere sind zuweilen denen der Menschen vorzuziehen.
Marius blickte in ein schmutziges Loch.
Er selbst war arm, sein Quartier war dürftig; doch war seine Armut edel, sein Unterschlupf sauber. Das Loch aber, in das er jetzt sah, war verlottert, schmutzig, dunkel, widerwärtig. Das Mobiliar bestand aus einem Strohsessel, einem wackeligen Tisch, einigen alten Töpfen, zwei elenden Bettgestellen; dem Fenster dienten wohl die Spinnweben als Vorhänge. Durch diese Luke drang gerade genug Licht ein, um die Menschen in diesem Raum gespenstisch erscheinen zu lassen. Die Wände waren unrein wie die Haut eines Leprakranken, bedeckt mit Narben und Rissen. Klebrige Feuchtigkeit haftete an ihnen. Irgend jemand hatte mit einem Kohlenstift obszöne Skizzen darauf gezeichnet.
Doch gab es in diesem Zimmer einen Kamin – darum kostete es auch vierzig Franken jährliche Miete. Und in dem Kamin war alles mögliche zu bemerken, ein kleiner Kochherd, ein Topf, zerbrochene Bretter, Fetzen, die an Nägeln hingen, ein Vogelkäfig, Asche, und sogar ein kleines Feuer. Zwei Scheite brannten darin.