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»Still, Schatz, es ist nicht schlimm, weine nicht, Papa wird sonst böse.«

»Ganz und gar nicht«, sagte der Vater, »weine nur. Das ist ganz gut.«

Dann wandte er sich an die Ältere:

»Siehst du, er kommt nicht. Jetzt hab ich das Feuer ausgelöscht, den Stuhl ruiniert, mein Hemd zerrissen und die Scheibe eingeschlagen – alles für nichts.«

In demselben Augenblick wurde leise an die Tür geklopft.

Sofort öffnete der Alte und empfing seinen Gast mit tiefen Verneigungen und liebenswürdigem Lächeln.

»Treten Sie ein, mein Herr. Geruhen Sie einzutreten, mein edler Wohltäter, und auch Sie, treten Sie ein, reizendes Fräulein!«

Ein bejahrter Mann und ein junges Mädchen erschienen auf der Schwelle.

Marius hatte seinen Platz noch nicht verlassen. Was er in diesem Augenblick empfand, läßt sich nicht beschreiben.

Es war sie.

Sie! Kaum hatte Marius sie erkannt, als sich ein lichter Schleier über seine Augen legte. Das war dieses entzückende Gesicht, das verschwunden war, um ihn in düsterer Nacht zurückzulassen. Jetzt ging die verfinsterte Sonne wieder auf!

Und hier in dieser Höhle, an diesem Ort des Schreckens sollte er sie wiederfinden!

Er zitterte. Er fühlte, daß er in Tränen ausbrechen werde. Ihm war, als ob er seine verlorene Seele wiederfände.

Sie war unverändert, nur ein wenig blasser; ihr reizendes Gesichtchen wirkte unter dem violetten Samthut schöner als je. Sie trug einen schwarzen Atlaspelz. Ihre kleinen Füße steckten in Seidenschühchen.

Noch immer war sie in Begleitung Herrn Leblancs. Sie hatte einige Schritte in das Zimmer hineingetan und ein ziemlich großes Paket auf den Tisch gelegt.

Die ältere Tochter Jondrette hatte sich hinter die Tür zurückgezogen und betrachtete düster den Samthut, den Seidenmantel und das strahlende, glückliche Antlitz.

Jondrette weint fast

»Mein Herr«, sagte Leblanc zu Jondrette, »Sie finden in diesem Paket einige Kleidungsstücke, Strümpfe und Wolldecken.«

»Unser edler Wohltäter überhäuft uns mit gütigen Geschenken«, antwortete Jondrette und verneigte sich tief. Dann flüsterte er seiner älteren Tochter, während die beiden Besucher sich in dem kläglichen Raum umsahen, zu:

»Lumpenzeug, aber kein Geld. Immer dasselbe. Übrigens, wie war der Brief an diesen alten Trottel unterschrieben?«

»Favantou.«

»Aha, dramatischer Schauspieler!«

Jondrette hatte Glück, denn in diesem Augenblick wandte sich Leblanc zu ihm und sagte mit der Miene eines Mannes, der in seinem Gedächtnis nach einem Namen sucht:

»Ich sehe, es geht Ihnen sehr schlecht, Herr …«

»Favantou«, antwortete Jondrette eifrig.

»Richtig, Herr Favantou. Jetzt erinnere ich mich.«

»Ich bin dramatischer Schauspieler, mein Herr, ich habe meine Erfolge gehabt!«

Offenbar glaubte Jondrette den Augenblick gekommen, um dem Philanthropen zu sagen, wer er war. Mit der Mimik eines Jahrmarktclowns und der Demut eines Straßenbettlers sprach er weiter:

»Ich bin ein Schüler Talmas, mein Herr! Einst hat mir das Glück gelächelt. Ach, und jetzt hat sich alles zum Bösen gewandt. Sie sehen, mein Wohltäter – kein Brot, kein Feuer im Kamin! Meine armen Kinder müssen frieren! Der einzige Stuhl ist verdorben, die Fensterscheibe zerbrochen! Und das bei diesem furchtbaren Wetter! Meine Gattin im Bett – krank!«

»Die arme Frau«, sagte Leblanc.

»Und mein Kind verwundet!«

Die Kleine heulte noch immer vor sich hin.

»Sie sehen, schönes Fräulein«, fuhr Jondrette fort, »ihre Hand blutet! Sie arbeitet an der Maschine, um täglich sechs Sous zu verdienen. Dabei ist ihr nun dieses Unglück zugestoßen. Vielleicht wird man ihr den Arm abnehmen müssen.«

»Im Ernst?« fragte der Greis erschrocken.

Das junge Mädchen schien diese Prophezeiung ernst zu nehmen, denn es begann noch lauter zu jammern.

»Ach, so ist es, mein Wohltäter«, schloß Jondrette.

Er hatte inzwischen den Philanthropen mit eigenartigen Blicken verfolgt. Während er sprach, schien er aufmerksam nachzudenken, als ob er eine Erinnerung wachzurufen suchte. Jetzt benützte er einen Augenblick, da die Fremden die Hand der Tochter betrachteten, um an das Bett seiner Frau zu treten und zu flüstern:

»Sieh dir den Mann an!«

Dann wandte er sich wieder zu Leblanc und fuhr fort zu klagen:

»Sie sehen, mein Herr, ich habe nichts anderes anzuziehen als ein Hemd meiner Frau, und es ist ganz zerrissen! Und mitten im Winter! Ohne Rock kann ich nicht ausgehen. Wenn ich auch nur einen einfachen Rock hätte, ginge ich zu Fräulein Mars, die mich kennt und schätzt. Sie wohnt doch noch Rue de la Tour-des-Dames? Kennen Sie sie? Wir haben früher in der Provinz miteinander gespielt, und ich habe ihre Lorbeeren teilen dürfen. Célimène würde mir zu Hilfe kommen, mein Herr. Elmira würde Belisar ein Almosen geben. Aber nein, es ist unmöglich. Keinen Sou habe ich im Hause! Meine Frau ist krank, und ich habe keinen Sou! Meine Tochter gefährlich verwundet – kein Geld im Hause! Meine Frau leidet unter Erstickungsanfällen. Das liegt wohl an ihrem Alter. Und ihre Nerven sind vollkommen verdorben. Ihr und meiner Tochter wäre Hilfe nötig. Aber der Arzt?! Und wie soll ich ohne einen Pfennig in der Tasche den Apotheker bezahlen? Ach, so weit hat mich die Kunst gebracht, und wie tief sind heutzutage die Künste gesunken! Und begreifen Sie wohl, mein reizendes Fräulein, und auch Sie, mein großmütiger Förderer, der Sie Tugend und Güte ausatmen und jene Frömmigkeit der Kirche, in der meine Tochter Ihnen täglich begegnet: ich erziehe meine Töchter religiös. Ich habe nicht erlaubt, daß sie zum Theater gehen. Daß ich sie nicht auf Abwegen treffe! Da laß ich mit mir nicht spaßen! Ich erziehe sie im Geiste der Ehre, der Moral und der Tugend. Fragen Sie die Mädchen nur selbst! Der gerade Weg ist der einzig anständige. Diese Kinder haben einen Vater. Das sind nicht Unglückliche, die keine Familie haben und später aller Welt zu Willen sind. Wer als Fräulein Niemand anfängt, wird alsbald jedermanns Freund. So etwas darf in der Familie Favantou nicht passieren. Ich will sie in Ehren großziehen, und sie sollen sittsam und gottergeben sein, heilig sei sein Name! Wissen Sie aber auch, was morgen geschieht? Morgen ist der vierte Februar, der Schicksalstag, die letzte, äußerste Frist, die mir der Hauswirt gegeben hat, und wenn ich heute abend nicht bezahle, wird morgen meine ältere Tochter, meine fiebernde Frau, mein verwundetes Kind – alle vier werden wir morgen aus diesem Hause gejagt, auf die Straße geworfen, ohne Schutz, in Regen und Schnee! So steht’s mit uns, mein Herr. Ich schulde vier Mieten, ein ganzes Jahr, volle sechzig Franken!«

Jondrette log. Denn erstens waren vier Mieten nur vierzig Franken, und zweitens konnte er nicht vier schuldig sein, denn Marius hatte ja vor sechs Wochen zwei für ihn bezahlt.

Leblanc zog ein Fünffrankenstück aus der Tasche und legte es auf den Tisch.

Jondrette flüsterte seiner Tochter zu:

»Der Geizkragen! Was soll ich mit seinen fünf Franken anfangen? Das reicht nicht einmal für den Stuhl und die Scheibe. Mit so etwas macht man sich noch Spesen!«

Inzwischen hatte Herr Leblanc seinen braunen Überrock ausgezogen und über die Lehne des Stuhls gelegt.

»Herr Favantou«, sagte er, »ich habe nur fünf Franken bei mir, aber ich will jetzt meine Tochter nach Hause bringen und noch heute abend wiederkommen. Heute abend sollen Sie doch zahlen, nicht wahr?«

Ein seltsamer Ausdruck erschien auf Jondrettes Gesicht.

»Ja«, erwiderte er lebhaft, »mein ehrenwerter Herr. Um acht Uhr muß ich bei dem Hauswirt sein.«

»Gut, ich komme um sechs und bringe Ihnen die sechzig Franken.«

»Mein Wohltäter!«

Leblanc hatte den Arm des jungen Mädchens genommen und wandte sich zur Tür.