»Auf heute abend also, meine Freunde!«
Jetzt bemerkte die ältere Tochter Jondrettes den Rock, der auf dem Stuhl hängengeblieben war.
»Sie vergessen Ihren Überrock, mein Herr!«
Ein furchtbarer Blick des Vaters traf sie.
Leblanc wandte sich um und sagte lächelnd:
»Ich habe ihn nicht vergessen, ich lasse ihn gern hier.«
Droschkentarif: zwei Franken die Stunde
Marius stürzte aus seinem Zimmer. An der Ecke des Boulevard angelangt, sah er die Droschke in voller Fahrt in die Rue Mouffetard einbiegen. Wie sollte er sie einholen? Nachlaufen? Das war unmöglich. Auch würde man aus dem Wagen sehen, daß jemand hinterherliefe, so rasch ihn die Beine trugen, und der Vater würde ihn erkennen.
In diesem Augenblick kam eine Droschke vorüber, und Marius entschloß sich – erstaunlicher und unerhörter Mut! –, einzusteigen und dem Fiaker zu folgen. Das war sicher, wirksam und gefahrlos.
Also winkte er dem Kutscher und rief:
»Auf eine Stunde.«
Marius war ohne Halstuch und trug seinen alten Arbeitsrock, dem die Knöpfe fehlten; das Hemd war vorn an der Fältelung des Bruststücks zerrissen.
Der Kutscher hielt, zwinkerte, streckte die Linke aus und rieb mit vielsagender Miene Zeigefinger und Daumen aneinander.
»Was wollen Sie?«
»Zahlen Sie im voraus!«
Marius erinnerte sich, daß er nur sechzehn Sous bei sich hatte.
»Wieviel macht das?«
»Vierzig Sous.«
»Ich bezahle, wenn wir zurück sind.«
Der Kutscher antwortete nur, indem er pfiff und mit der Peitsche schnalzte.
Erschrocken sah Marius der Droschke nach, die sich entfernte. Für vierundzwanzig Sous, die ihm fehlten, verlor er seine Freude, sein Glück, seine Liebe! Wieder versank er in tiefe Nacht! Er hatte gesehen und sollte wieder blind werden.
Verzweifelt kehrte er in das Haus zurück.
Als er die Treppe hinaufsteigen wollte, sah er auf der andern Seite des Boulevards Jondrette stehen. Der Mann trug den Rock des Philanthropen und sprach mit einem Kerl von beunruhigendem Äußern; einem Menschen, der aussah wie ein böser Gedanke, einem von jenen, die tagsüber schlafen, woraus man wohl schließen darf, daß sie des Nachts am Werke sind.
So schmerzlichen Gedanken er auch nachhing, wurde er sich doch in diesem Augenblick bewußt, daß dieser Partner Jondrettes einem gewissen Panchaud, genannt Bigrenaille, den ihm Courfeyrac einmal gezeigt hatte, sehr ähnlich sah. Und dieser Panchaud war einer der berüchtigtsten Verbrecher von Paris.
Das Elend bietet dem Kummer seine Dienste an
Marius stieg langsam die Treppe hinauf. Als er in seine Stube eintreten wollte, sah er die ältere Jondrette neben sich. Sie war ihm offenbar gefolgt.
Ihr Anblick war ihm verhaßt, denn ihr hatte er die fünf Franken gegeben, die er jetzt nicht mehr zurückverlangen konnte und deren Verlust ihm zugleich alle Hoffnung genommen hatte, jenem Wagen zu folgen. Jetzt würde sie ihm das Verlorene gewiß nicht wiederbringen können. Auch sie wußte offenbar die Adresse nicht, denn sonst hätte sie ja den Brief des vorgeblichen Favantou nicht an den Wohltäter aus der Kirche Saint-Jacques du Haut-Pas gerichtet.
Er trat in sein Zimmer und schlug die Türe hinter sich zu.
Aber er stieß auf Widerstand. Eine Hand hatte sich in den Spalt geschoben.
»Was gibt’s?« fragte er, »wer ist da? Ach Sie sind es? Schon wieder? Was wollen Sie denn?«
Sie sah nachdenklich aus und hielt die Blicke zu Boden gerichtet. Jetzt war sie nicht so sicher wie am Morgen. Sie trat nicht ein, sondern blieb im Schatten des Korridors stehen.
»Antworten Sie doch, was wollen Sie denn?«
Etwas leuchtete in ihrem trüben Auge, als sie sagte:
»Herr Marius, Sie sehen so traurig aus. Was haben Sie denn?«
»Ich? Nichts.«
»O doch.«
»Nein, wirklich nichts. Lassen Sie mich in Ruhe.«
Wieder wollte er die Türe schließen, aber sie hielt ihn zurück.
»Halt, das ist nicht recht von Ihnen. Obwohl Sie nicht reich sind, waren Sie heute morgen gut zu mir. Seien Sie es auch jetzt. Erst haben Sie mir zu essen gegeben, jetzt sagen Sie mir, was Sie haben. Ich sehe es ja, ein Kummer bedrückt Sie. Ich will nicht, daß Sie traurig sind. Kann ich etwas für Sie tun? Vielleicht kann ich Ihnen einen Dienst leisten? Sagen Sie es mir nur. Ich will keine Geheimnisse erforschen, Sie brauchen mir nichts zu sagen, aber vielleicht kann ich Ihnen nützlich sein. Auch Ihnen kann ich helfen, denn ich helfe ja auch meinem Vater. Wenn es nur darauf ankommt, Briefe zu bestellen oder etwas ausfindig zu machen, von Haus zu Haus etwas zu erfragen oder jemand nachzugehen, so kann ich das sehr gut. Oft kann man wichtige Dinge erfragen, und dann geht alles gut.«
Eine Idee kam Marius. Greift man nicht nach jedem Zweig, wenn man fällt?
»Höre«, sagte er.
In ihren Augen war etwas wie Freude.
»Ja, duzen Sie mich, das habe ich lieber.«
»Du hast diesen Herrn mit seiner Tochter hierhergeführt.«
»Ja.«
»Weißt du ihre Adresse?«
»Nein.«
»Dann suche sie zu erfahren.«
Wenn ihr stumpfes Auge erst freudig geworden war, so wurde es jetzt traurig.
»Also das wollen Sie?«
»Ja.«
»Kennen Sie die Leute?«
»Nein.«
»Also Sie kennen das Mädchen nicht, aber Sie wollen es kennenlernen?«
In der Art, wie sie von »den Leuten« zu »dem Mädchen« kam, war etwas Bitteres.
»Also, kannst du?«
»Sie sollen die Adresse des schönen Fräuleins haben.«
In der Art, wie sie von dem schönen Fräulein sprach, war etwas für Marius Unangenehmes.
»Die Adresse des Vaters oder der Tochter. Kurz ihre Adresse.«
Sie sah ihn scharf an.
»Und was bekomme ich dafür?«
»Was du willst.«
»Gut, Sie sollen die Adresse haben.«
Sie senkte den Kopf, machte eine rasche Bewegung, zog die Tür zu und ging.
Marius ließ sich in den Stuhl fallen und wurde von einer Flut von Gedanken, in denen er sich nicht zurechtzufinden vermochte, fortgerissen. Alles, was an diesem Tage vorgefallen war, die Erscheinung jenes Engels, sein Verschwinden, alles schwebte unklar vor seinem Auge.
Plötzlich wurde er jäh aus seiner Nachdenklichkeit gerissen.
Er hörte die laute, harte Stimme Jondrettes, und seine Worte waren für Marius von einem seltsamen Interesse.
»Und ich sage dir, daß ich meiner Sache sicher bin und ihn erkannt habe.«
Von wem sprach Jondrette? Wen hatte er wiedererkannt? Herrn Leblanc, den Vater »seiner Ursule«? Jondrette kannte ihn?
Marius sprang mehr auf die Kommode, als er sie erstieg, und im nächsten Augenblick hatte er seinen Beobachtungsposten wieder bezogen.
Erkannt …
»Wirklich? Du bist deiner Sache sicher?«
Es war die Frau, die so fragte.
»Vollkommen sicher. Es sind acht Jahre her, aber ich habe ihn wiedererkannt. Oh, ob ich ihn wiedererkannt habe! Sofort! Daß dir das nicht gleich in die Augen gesprungen ist?!«
»Nein.«
»Und ich hab dir doch gesagt: paß auf! Dieselbe Figur, dasselbe Gesicht, kaum gealtert, denn manche Leute werden ja nicht älter, weiß der Teufel, wie sie das anstellen. Und auch dieselbe Stimme. Nur ist er besser angezogen. Hinter diesem alten Teufel steckt ein Geheimnis.«
Jetzt wandte er sich an seine beiden Töchter:
»Raus mit euch beiden – komisch, daß es dir nicht gleich aufgefallen ist.«
Die beiden Mädchen waren aufgestanden.
»Soll sie mit der kranken Hand hinausgehen?« fragte scheu die Mutter.
»Die Luft wird ihr guttun. Marsch!«
Offenbar war das ein Mann, dem man nicht widerspricht. Die beiden Mädchen gingen. Im Augenblick, in dem sie die Türe schließen wollten, rief der Vater der Älteren nach: