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»Um fünf Uhr pünktlich seid ihr hier. Alle beide. Ich werde euch brauchen.«

Die Aufmerksamkeit Marius’ verdoppelte sich.

Drei- oder viermal ging Jondrette schweigend auf und ab.

Plötzlich wandte er sich nach seiner Frau um, kreuzte die Arme und rief:

»Und soll ich dir noch etwas sagen? Dieses Fräulein …«

»Nun?«

Marius konnte nicht zweifeln, daß von ihr die Rede war. Gierig lauschte er. Es war, als ob sein Leben daran hänge.

Aber Jondrette hatte sich zu seiner Frau herabgeneigt und flüsterte.

Jetzt war er wieder besser zu verstehen.

»Sie ist es. Dieselbe.«

»Diese?«

»Dieselbe.«

Kein Wort kann ausdrücken, mit welcher Betonung die Mutter »diese?« gefragt hatte. In ihrem Tonfall war Überraschung, Wut und Haß.

»Unmöglich«, sagte sie jetzt. »Wenn ich bedenke, daß meine Töchter barfuß und ohne Kleid herumlaufen! Ein Atlaspelz, ein Samthut, Schuhe – Zeug für zweihundert Franken hat sie auf dem Leibe. Man sollte sie für eine Dame halten! Nein, du irrst dich. Übrigens war sie häßlich, und diese ist nicht so übel. Sie kann es nicht sein.«

»Und ich sage dir, daß sie es ist. Du wirst ja sehen.«

Die Jondrette schien Marius in diesem Augenblick schrecklicher als ihr Gatte. Sie glich einer Wildsau mit den Augen einer Tigerin.

»Was, dieses Geschöpf, diese Bettlerin wagt es, mitleidig auf meine Töchter herabzublicken? Ich möchte ihr die Därme aus dem Leib treten!«

Sie sprang von ihrer Pritsche auf und blieb einen Augenblick stehen, zerzaust, mit geblähten Nasenflügeln, halboffenem Mund und geballten Fäusten. Dann ließ sie sich wieder auf die Pritsche zurückfallen.

Der Mann ging auf und ab, ohne auf seine Frau zu achten.

Endlich blieb er wieder vor ihr stehen, kreuzte die Arme, wie er es eben erst getan hatte, und sagte:

»Und soll ich dir noch etwas sagen?«

»Nun?«

»Diesmal habe ich mein Glück gemacht«, sagte er leise.

Aus ihrem Blick sprach die Befürchtung, er sei verrückt geworden.

»Donnerschlag!« rief er, »lang genug wohne ich in der Pfarrei Stirbhungers im Sprengel Kalterherd! Jetzt habe ich genug von dem Jammer. Jetzt bin ich an der Reihe! Jetzt meine ich es todernst, jetzt sehe ich die Dinge gar nicht mehr komisch an. Genug gekalauert! Keine Späßchen mehr, himmlischer Vater! Jetzt will ich mich satt essen und trinken nach meinem Durst! Fressen will ich! Schlafen! Nichts tun! Bevor ich krepiere, will auch ich ein bißchen den Millionär spielen – wie die andern.«

»Was willst du damit sagen?«

Er schüttelte den Kopf, zwinkerte und begann wie ein Kurpfuscher zu predigen:

»Was ich sagen will? Gut, so höre mich an!«

»Still!« murmelte die Jondrette, »nicht so laut, wenn es Dinge sind, die nicht jedermann hören soll.«

»Pah, wer hört uns denn? Der Nachbar? Der ist ausgegangen. Übrigens versteht er doch nichts, dieser Trottel!«

Glücklicherweise dämpfte der dichtfallende Schnee das Rasseln der Wagen auf dem Boulevard, so daß Marius jedes Wort verstehen konnte.

»Paß auf, er ist gefangen, der Krösus. Alles ist in Ordnung. Schon gemacht. Ich habe Leute gesehen. Er kommt um sechs. Die sechzig Franken bringen. Schweinehund! Hast du gesehen, wie ich sie ihm herausgeholt habe, diese sechzig Franken? Ach, war er blöd! Nun, er kommt um sechs. Um diese Zeit geht unser Nachbar essen. Frau Burgon ist in der Stadt mit ihren Wascharbeiten beschäftigt. Niemand im Haus. Der Nachbar kommt vor elf Uhr nie zurück. Die Mädchen können Schmiere stehen. Du kannst uns helfen. Er wird schon kirre werden.«

»Und wenn er nicht kirre wird?«

»Dann machen wir ihn kirre.«

Jondrette lachte unheimlich.

Marius sah ihn zum erstenmal lachen und schauderte.

Jondrette öffnete einen Schrank neben dem Kamin, zog eine alte Mütze heraus und setzte sie, nachdem er sie mit dem Ärmel abgerieben hatte, auf.

»So, jetzt gehe ich. Ich muß noch Leute sehen. Verläßliche Leute. Du wirst schon sehen, wie sich das alles entwickelt. Paß inzwischen auf das Haus auf.«

Er versenkte seine Fäuste in den Hosentaschen und blieb einen Augenblick nachdenklich stehen.

»Ein Glück ist es nur, daß er mich nicht erkannt hat. Wenn er mich wiedererkannt hätte, käme er nicht wieder! Der wäre uns durch die Finger gerutscht. Mein Bart, mein romantischer Bart hat mich gerettet.«

Wieder lachte er.

Er war ans Fenster getreten.

»Hundewetter!«

Er knöpfte seinen Rock zu.

»Die Kluft ist mir zu breit. Immerhin, es war eine verdammt gute Idee von ihm, ihn mir hier zu lassen. Sonst könnte ich jetzt nicht ausgehen, und alles wäre verpatzt. An solchen Dingen hängt oft alles.«

Er zog die Mütze tief ins Gesicht und ging.

Solus cum solo, in loco remoto, non cogitabuntur orare pater noster

Trotz seines Hanges zur Träumerei war Marius, wie wir schon gesagt haben, ein fester, energischer Charakter. Seine Sonderlingsgewohnheiten hatten ihn wohl verfänglich gemacht für Regungen der Sympathie und des Mitleids, vielleicht auch seine Empfindlichkeit herabgemindert, doch war er immerhin noch imstande, sich zu empören. Er war gütig wie ein Brahmane und zugleich streng wie ein Richter; mit einer Kröte konnte er Mitleid haben, aber eine Viper zertrat er. Darum war er jetzt, da er in ein Vipernnest geraten war, zu allem entschlossen.

»Ich werde diesem Elenden den Fuß auf die Stirn setzen«, sagte er.

Von all den Rätseln, die plötzlich vor ihm standen, war keines gelöst worden; im Gegenteil, er tappte mehr denn je im finstern. Nichts wußte er über das hübsche Kind aus dem Luxembourg, nichts über den Mann, den er Leblanc nannte, außer der einzigen Tatsache, daß Jondrette ihn kannte. Aus dem ganzen Wirrwarr der Worte, die er gehört hatte, begriff er nur eines, daß hier ein Hinterhalt gelegt werden sollte; daß vielleicht alle beide, gewiß aber ihr Vater in großer Gefahr schwebte.

Einen Augenblick lang beobachtete er die Jondrette, dann stieg er von seiner Kommode so geräuschlos wie möglich herab. Er fühlte jetzt Freude bei dem Gedanken, daß er vielleicht ihr, die er liebte, einen so bedeutsamen Dienst erweisen könne. Aber was konnte er tun? Die Bedrohten warnen? Wo sollte er sie finden? Er wußte ja die Adresse nicht. Sie waren einen Augenblick vor seinen Augen aufgetaucht, dann wieder verschwunden in den unendlichen Tiefen von Paris. Sollte er Herrn Leblanc am Abend um sechs Uhr an der Türe abpassen? Jondrette und seine Leute würden ihn bemerken, die Gegend war öde, unschwer konnten sie ihn überwinden und beiseite schaffen; dann war er, den Marius retten wollte, vollends verloren.

Jetzt war es ein Uhr. Um sechs Uhr würde alles vorüber sein. Marius hatte also noch fünf Stunden vor sich.

Ihm blieb nur ein einziger Ausweg übrig.

Er zog seinen Rock an, band sich das Halstuch um, setzte den Hut auf und schlich sich fort, leiser, als ob er barfuß über Moos gegangen wäre.

Sobald er das Haus verlassen hatte, eilte er nach der Rue du Petit Banquier.

Er war schon in der Mitte jener Straße, an einer sehr niedrigen Mauer, die man an gewissen Stellen leicht überspringen kann; langsam, in Gedanken versunken, ging er einher; der Schnee dämpfte das Geräusch seiner Schritte. Plötzlich hörte er ganz nahe, hinter der Mauer, sprechen. Er wandte den Kopf um, sah aber niemand, obwohl es heller Tag war.

Schon wollte er über die Mauer schauen. Er warf einen Blick über die Brüstung und gewahrte zwei Männer, die an die Mauer gelehnt standen und leise sprachen.

Die beiden waren ihm unbekannt. Der eine war bärtig und trug eine Arbeiterbluse, der andere war in Lumpen gehüllt. Der Bärtige trug eine Griechenmütze, der andere war barhäuptig und hatte Schnee in den Haaren.