»Ja«, sagte jetzt Jondrette, »die Falle ist bereit, die Katzen warten«, und etwas leiser: »Legt dies da ins Feuer.«
Marius hörte ein Klirren, wie wenn ein Eisengegenstand auf Kohlen gelegt wird.
»Sind die Türangeln gut geölt?«
»Ja.«
»Wie spät ist es?«
»Bald sechs. In Saint-Médard hat es schon halb geschlagen.«
»Hol’s der Teufel, die Kleinen müssen auf Posten gehen. Hört ihr da!«
Ein Flüstern folgte.
Dann fragte Jondrette laut:
»Also die Burgon ist fort?«
»Jawohl.«
»Und du bist sicher, daß niemand bei dem Nachbarn ist?«
»Er war den ganzen Tag außerhalb. Und um diese Zeit geht er immer essen.«
»Na … immerhin, es wird sich empfehlen, einmal nachzuschauen. Kleine, nimm mal die Kerze und geh herüber.«
Marius ließ sich auf Hände und Knie fallen und kroch unter das Bett.
Er war kaum in seinem Versteck angelangt, als er schon Licht durch den Türspalt sah.
»Papa, er ist schon fort!«
Es war die Stimme der älteren Tochter.
»Bist du drin?«
»Nein, aber der Schlüssel steckt in der Tür.«
»Geh doch hinein.«
Die Türe wurde weit geöffnet, und Marius sah die ältere Tochter Jondrettes mit einer Kerze in der Hand eintreten. Sie ging geradeswegs auf das Bett zu. Marius erlebte einen Augenblick seltsamer Angst. Aber sie blieb vor dem Spiegel stehen, stellte sich auf die Zehenspitzen und sah hinein. Dann trat sie zum Fenster, sah hinaus und sagte laut und in dem Tonfall halben Irrsinns, der ihr eigentümlich war:
»Wie Paris häßlich ist im weißen Hemd!«
Wieder trat sie vor den Spiegel und betrachtete sich genau.
»Holla«, schrie der Vater, »was treibst du da drüben?«
»Ich schau unter das Bett und unter die Möbel«, erwiderte das Mädchen und fuhr fort, sich die Haare zurechtzustreichen.
»Idiotin!« brüllte der Vater, »sofort kommst du hierher. Wir haben keine Zeit zu verlieren.«
»Ich komm schon. In dieser Bude hat man zu nichts Zeit.«
Dann warf sie einen letzten Blick in den Spiegel und ging.
Gleich darauf hörte Marius die beiden Barfüßigen den Korridor entlanglaufen. Jondrette rief ihnen nach:
»Aufgepaßt! Eine gegen das Tor zu, die andere an der Ecke der Rue du Petit-Banquier. Verliert nicht das Haustor aus dem Auge. Sobald ihr etwas merkt, lauft ihr hierher. Schlüssel habt ihr.«
Die Ältere murrte:
»Barfuß im Schnee Schmiere stehen!«
»Morgen habt ihr Seidenschuhe.«
Jetzt waren nur mehr Marius und die beiden Jondrettes im Haus; oder vielleicht auch die geheimnisvollen Gestalten, die Marius hinter der Mauer gesehen hatte.
Man achte auf den Hintergrund!
Jondrette hatte seine Pfeife angebrannt und sich auf den durchlöcherten Stuhl gesetzt.
Wenn Marius Courfeyrac gewesen wäre, also einer von jenen Menschen, die bei jeder Gelegenheit etwas zu lachen finden, hätte er laut herausplatzen müssen, wenn er durch sein Guckloch die Jondrette sah. Sie trug einen schwarzen Federhut, wie ihn die Herolde Karls X. zu tragen pflegten, einen ungeheuerlichen Schal und Männerstiefel. Das war die Toilette, die Jondrette zu dem Ausruf veranlaßt hatte.
»Du hast recht gehabt, Frau, daß du dich so angezogen hast. Du wirst Vertrauen einflößen müssen.«
Plötzlich begann Jondrette wieder zu sprechen.
»Apropos, er kommt ja in einer Droschke. Ohne Zweifel. Zünde deine Laterne an und geh damit hinunter. Erwarte ihn hinter der Türe. Wenn der Wagen vorfährt, machst du auf und leuchtest dem Philanthropen auf der Treppe. Sobald er im Korridor ist, gehst du zurück und bezahlst den Kutscher, damit er wegfährt.«
»Und das Geld?« fragte die Frau.
Jondrette wühlte in seinen Hosentaschen und holte ein Fünffrankenstück hervor.
»Wo ist denn das her?« fragte die Frau.
»Von unserm Nachbarn, heute früh geschenkt.«
Dann fuhr er fort:
»Wir brauchten auch noch zwei Stühle.«
»Wozu?«
»Mein Gott, zum Sitzen.«
Marius erschauerte, als er die Jondrette gemächlich antworten hörte:
»Na, dann holen wir eben die von unserem Nachbarn.«
Und schon öffnete sie die Tür und trat in den Korridor.
Marius hatte nicht mehr Zeit, von der Kommode herabzuspringen und unter das Bett zu fliehen.
»Nimm die Kerze!« rief ihr Jondrette nach.
»Wie kann ich denn, wenn ich zwei Stühle tragen soll.«
Marius hörte, wie Mutter Jondrette an seinem Schlüssel herumtastete. Die Tür ging auf. Er blieb wie angewachsen an seinem Platz stehen.
Die Jondrette trat ein. Sie konnte Marius in der Dunkelheit nicht sehen, nahm sofort die beiden Stühle, die einzigen, die Marius besaß, und ging wieder; die Tür fiel laut ins Schloß.
»So«, hörte er von drüben sagen, »hier hast du die Laterne, jetzt geh hinunter.«
Jondrette blieb allein zurück.
Er stellte die beiden Stühle an den Tisch, so daß sie einander gegenüberstanden, und trat dann an den Kamin. Marius sah am Boden eine Menge Seile und die Holzsprossen einer Strickleiter liegen.
Offenbar waren diese Geräte unter Tage erst hierhergebracht worden.
In dem Kaminfeuer lagen ein Meißel und eine große Feile.
Schmiedewerkzeug, dachte Marius. Inzwischen hatte Jondrette seine Pfeife ausgehen lassen. Das bewies, daß er intensiv nachdachte. Zuweilen zog er die Augenbrauen hoch und machte mit der rechten Hand Bewegungen, als ob er mit sich selbst spräche. Einmal, wohl in Erwiderung auf eine Frage in diesem Monolog, zog er die Tischlade heraus, entnahm ihr ein langes Küchenmesser und prüfte seine Schärfe an seinem Nagel. Dann warf er es wieder in die Lade zurück, die er zustieß.
Plötzlich erschütterten aus der Ferne sechs schwere Glockenschläge die Fensterscheiben. Die Turmuhr von Saint-Médard zeigte die sechste Stunde.
Jondrette quittierte jeden Schlag mit einem Nicken. Beim sechsten schneuzte er die Kerze mit den Fingern.
Da ging die Tür auf, Mutter Jondrette hatte sie geöffnet und stand auf der Schwelle; sie hatte ein scheußliches Gesicht aufgesetzt, das liebenswürdig sein sollte.
»Treten Sie ein, mein Herr.«
»Treten Sie ein, mein Wohltäter«, wiederholte Jondrette und sprang auf.
Leblanc erschien. In seinem Gesicht war jener Ausdruck edler Heiterkeit, der ihn so ehrwürdig erscheinen ließ.
Er zählte vier Louis auf den Tisch.
»Dies hier, Herr Favantou, für Ihre Miete und Ihre dringlichsten Bedürfnisse. Später werden wir weitersehen.«
»Gott möge es Ihnen vergelten, mein großmütiger Wohltäter«, sagte Jondrette, der sich gleichzeitig seiner Frau genähert hatte.
»Kutscher wegschicken«, flüsterte er ihr zu.
Sie verschwand, während ihr Gatte sich in Begrüßungsförmlichkeiten erging und Herrn Leblanc nötigte, Platz zu nehmen.
Gleich darauf kam sie wieder und sagte leise zu ihrem Mann:
»Abgemacht.«
Es hatte den ganzen Tag über geschneit, und hoher Schnee lag auf der Straße; man hatte den Wagen nicht kommen gehört, und jetzt war er lautlos verschwunden.
Kaum hatte Leblanc sich gesetzt, als er sich auch schon nach den beiden leeren Pritschen umwandte.
»Wie geht es der armen Verwundeten?«
»Schlecht«, antwortete Jondrette mit dankbarem und untertänigem Lächeln, »sehr schlecht, mein edler Herr. Die Ältere hat sie nach dem Spital gebracht, damit sie verbunden wird. Die beiden werden bald zurückkommen.«
»Und auch Frau Favantou scheint es besser zu gehen?« fragte Leblanc und betrachtete die komisch aufgetakelte Person, die zwischen ihm und der Tür stand, als ob sie den Ausgang zu bewachen hätte.
»Ihr ist sterbenselend«, sagte Jondrette, »aber was wollen Sie, mein Herr, sie hat Mut, diese Frau, sie ist kein Weib, sie ist ein Stier.«